Die Folter

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Ob Naters liegt an der Furkastrasse das Fleckchen Weingarten (in vineis). Dieser Ort ist in der Walliser-Geschichte nicht unbekannt, weil da Landsgemeinden und Ratsversammlungen abgehalten wurden; war auch der Stammsitz einer in der Geschichte gemeldeten Familie de Vineis oder Weingartner. Der Name bürgt dafür, dass dort einst Rebgelände angelegt waren.

Spuren der Kulturabnahme, namentlich beim Weinbau, findet man im Wallis häufig; mag veranlasst worden sein durch die raue und kalte Witterung, die, laut Chroniken, am Ende des 16. Jahrhunderts vorherrschend geworden. Einige glauben auch, zur Zeit der Reformation sei die Ausfuhr der Weinprodukte gegen Waadtland abgeschnitten worden, was die armen Walliser zur Verminderung und Vernachlässigung der Weinkultur zwang. — Jetzt hätten sich diese Übelstände gebessert; guter Wein wäre vielerorts auch im Oberwallis zu erzielen, wenn man den Mut hätte, selben wieder anzupflanzen.

Doch ich will vom Dörfchen Weingarten erzählen. Da lebte einst, der Sage gemäss, ein Mann «Niggi (Niklaus) Eggel» mit seiner Familie, arm in einem kleinen Häuschen. Diesem träumte drei Nächte nacheinander, in Uri auf der Brücke werde er sein Glück finden. Ob das die «Teufelsbrücke» ob Göschinen — Eingangsort des künftigen Gotthards-Tunnel — gewesen, oder eine andere, weiss ich nicht. — Ein Seitenstück zu diesem Traume erzählt auch nächstfolgende Sage.

Unser Niggi Eggel lachte des Traumes; doch erzählte er selben seiner Gattin. Diese hatte mehr Vertrauen zu dem sonderbaren Traume und riet ihrem Manne, nach Einsiedeln eine Wahlfahrt zu machen; er werde da Gelegenheit haben, die Brücke in Uri zu sehen, und so sei seine Reise jedenfalls nicht ganz verloren.

Der Mann folgte und kam nach Einsiedeln ohne bei der bezeichneten Brücke etwas Ausserordentliches zu treffen. Auf der Heimreise fand er die Brücke wieder leer, wie bei der Hinreise; doch hielt er jetzt, etwas missgestimmt, darauf still und begann dieselbe der Länge und Breite nach näher anzuschauen. Da kam ein Mann zu ihm und fragte, ob er etwas verloren habe und suche. «Nein», antwortete unser Niggi, «es hat mir etwas Dummes von dieser Brücke geträumt, dem ich zwar nicht glaube; doch kann ich bei dieser Gelegenheit nicht unterlassen hier nach der Erfüllung des Traumes mich umzusehen.» Der Unbekannte lachte und sagte, er solle sich doch um Träume nicht abkümmern; auch ihm hätte geträumt, zu Weingarten in einem alten Häuschen sei im Keller neben der Stutt (Stütze) ein Hafen voll Geld vergraben. Er wisse nun weder Weingarten noch das Häuschen, wo die in der Welt seien; mache aber nichts, er kehre sich an solche Träume nicht.

Unser Niggi Eggel wurde nachdenkend; verabschiedete sich scheinbar gleichgültig vom Fremden und, zu Hause angekommen, fand er schon am ersten Abend im Keller bei der Stutt unter einer Steinplatte den verborgenen Schatz. Er erhob das Geld froh in aller Stille und sprach davon keiner lebenden Seele auch nur ein Sterbenswörtchen. Der glückliche Finder wandte das Geld gut an. Erst riss er sein altes, schadhaftes Häuschen ein und führte ein neues auf, das noch stehen soll. Dann erweiterte er seine Liegenschaften durch verschiedene Ankäufe und jedermann meinte, dass unser armer Niggi Eggel ein wohlhabender Mann geworden.

Das Reichwerden eines armen Mannes schien aber der damaligen Obrigkeit verdächtig: sie vermutete bei unserm Niggi Eggel entweder Diebstahl oder Zauberei. Beide Verbrechen wurden damals mit dem Tode bestraft, und das um so viel leichter, wenn der Angeschuldigte reich war. Nach damaligem Rechte erbten die Richter zum Teil das Vermögen der Verurteilten. Reichtum empfahl sie demnach eben nicht der Gnade der Richter, wie man der traurigen Beispiele noch viele erzählt. — Heute ist's gerade umgekehrt; die Reichen können mehr nützen im Leben als nach dem Tode. — Unser Niggi Eggel wurde eingezogen und dem Richter der Hexenkünste oder des Diebstahls angeschuldigt. In einer Schrift soll noch zu lesen sein, dass dreissig beeidete Zeugen gegen ihn im Gerichte ausgeführt wurden.

Natürlich konnte der Unschuldige diese Verbrechen nicht eingestehen. Er erzählte nun freilich, wie er zum Vermögen gekommen; allein die Richter glaubten nicht und wollten ihn durchaus verurteilen, darum ihn durch Folter und Tortur zum Geständnisse der Verbrechen zwingen. — Das Gesetz ordnete den Gang dieser peinlichen Verhandlung. Erst wurden leichtere, dann immer schwerere und zuletzt fast unerträgliche Qualen angewandt. Zwischen diesen Torturen wurde den Angeschuldigten Zeit gelassen sich eines Bessern zu besinnen; hatten auch gewöhnlich nötig, neue Körperkräfte zu sammeln, um den folgenden sich unterziehen zu können. — Es ist klar und geschichtlich wahr, dass viele Unschuldige für Verbrechen gestraft wurden, die sie nie begangen hatten. Mancher wollte lieber sich schuldig erklären, als den grausamen Folterqualen sich unterwerfen; oder bekannte auf der Folter, woran er sonst nie gedacht. Leider galt nur das als Wahrheit, was sein Mund, von Schmerzen übermannt, oft ohne alle Geistesgegenwart hervorstöhnte.

Während nun unser Delinquent in gemessenen Zeiträumen laut Gesetz gefoltert wurde, machte die Geschichte vom sonderbaren Traume und dem gefundenen Schatze die Runde weit im Lande herum. Sie wurde auch in Uri bekannt, vielleicht aus Absicht, und kam glücklicherweise auch zu den Ohren des Unbekannten, der dem Niggi Eggel auf der Brücke bei Uri seinen Traum vom Schatze im Keller kundgegeben.

Dieser hatte nun nichts Eiligeres zu tun, als nach Wallis zu gehen und der Unschuld des Verfolgten Zeugnis zu geben.

Und er hatte hohe Zeit; er traf den armen Mann eben halb verschmachtend auf der Folter an. Gleich wurde dieser nun losgelassen und vom Gerichte jeden Verbrechens frei gesprochen. — Leider half das dem Niggi Eggel wenig mehr. — Er wurde verrenkt und zerknickt in einer "Handwanne" nach Hause getragen, wo er nach drei Tagen — starb.

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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