Die beiden Freunde

Land: Sri Lanka
Kategorie: Novelle

Es zogen einst zwei Freunde gemeinsam durch die Welt. Der eine war gross und stark. Der andere war klein und schwach. Zusammen hatten sie schon viele Abenteuer erlebt. Der Grosse wollte nichts machen, ohne dass sein kleiner Freund dabei war. Der Kleine wiederum bewunderte seinen grossen Freund und tat alles, was dieser von ihm verlangte.  Eines Tages wollte der Grosse Rehe jagen. Der Kleine folgte ihm. Den ganzen Tag schlichen die beiden durch den Wald, doch sie fanden keine Spur eines Rehs. Als es dämmerte, wollten sie sich auf den Heimweg machen. In diesem Augenblick hörten sie aus dem Gebüsch ein gefährliches Brummen und Knurren. Da blieben sie still und lauschten. Der Kleine flüsterte: «Das ist bestimmt ein Bär. Lass uns schnell fortgehen. Bären sind gefährlich!» Aber der Grosse lachte nur: «Du hast Angst vor einem Bären? Du bist ein Feigling. Wir sind zu zweit. Statt eines Rehs könnten wir auch den Bären jagen und erlegen.» Der Grosse sprach so mutig, dass der Kleine seine Vorsicht ganz vergass und einverstanden war. «Gut, lass es uns versuchen. Wie wollen wir den Bären erlegen?»
«Geh du voraus, kleiner Freund. Erschrecke den Bären und lauf dann schnell davon. Ich werde mich verstecken und ihn dann aus dem Hinterhalt erlegen. Du musst keine Angst haben. Es kann gar nichts passieren.»
Weil ihm bisher noch nie etwas Schlimmes geschehen war, vertraute der Kleine dem Plan seines Freundes. Mit lauten Schritten und viel Lärm lief er durch den Wald. Als er merkte, dass der Bär im folgte, wurde er schneller. Er drehte sich kurz um und sah, dass der Bär riesig war und starke Pranken mit langen Krallen hatte. Da rannte der Kleine noch schneller zum Baum, hinter dem sich sein Freund versteckt hatte. «Sofort, komm raus und töte den Bären!»
Doch der Grosse hatte das wilde Tier schon von Weitem gesehen. Voller Angst war er weit hinauf auf den Baum geklettert. Von da oben rief er nun: «Ich bin hier. Komm hoch zu mir."
Doch der schwache, kleine Freund hatte nicht die Kraft, um hochzuklettern. Darum legte er sich auf den Boden, rollte sich zusammen und tat so, als wäre er bereits tot. Der mächtige Bär kam knurrend und schnaubend auf ihn zu und stupfte ihn mit seiner Schnauze an. Von oben musste der Grosse alles mit ansehen. Gleich würde der Bär seinen Freund auffressen. Doch da hörte er, wie der Bär plötzlich nicht mehr knurrte, sondern eigenartige Laute von sich gab. Der Kleine öffnete die Augen und nickte: "Jaja, ich habe dich verstanden Bär. Vielen Dank für deinen Rat.» Der Bär brummte, drehte sich um und verschwand im Wald. Der Grosse kletterte vorsichtig vom Baum und fragte: «Was war los? Was hat der Bär dir gesagt?» Der Kleine sah den Grossen ernst an und antwortete: «Er riet mir, dir nicht mehr blind zu folgen, sondern meinem eigenen Verstand zu vertrauen.» Diesen Rat beherzigte der Kleine von diesem Tag an und suchte sich seine Freude besser aus.

Fassung Anina Meile, nach: E. Schleberger, Märchen aus Sri Lanka, Köln 1982, © Mutabor Märchenstiftung

The two friends

Once upon a time, two friends traveled the world together. One was tall and strong. The other was small and weak. They had already experienced many adventures together. The big one didn't want to do anything without his little friend being there. The little one, on the other hand, admired his big friend and did everything he asked of him.  One day, the big boy wanted to hunt deer. The little one followed him. They spent the whole day sneaking through the forest, but found no sign of a deer. As dusk fell, they wanted to make their way home. At that moment, they heard a dangerous growling from the bushes. They remained silent and listened. The little boy whispered: "It's probably a bear. Let's go away quickly. Bears are dangerous!" But the big boy just laughed: "You're afraid of a bear? You're a coward. There are two of us. Instead of a deer, we could hunt and kill the bear." The big man spoke so boldly that the little one forgot all about his caution and agreed. "Well, let's give it a try. How are we going to kill the bear?"

"You go ahead, little friend. Scare the bear and then run away quickly. I'll hide and then kill it from ambush. You don't have to be afraid. Nothing can happen."

Because nothing bad had ever happened to him before, the little boy trusted his friend's plan. He ran through the forest with loud steps and a lot of noise. When he realized that the bear was following him, he sped up. He turned around briefly and saw that the bear was huge and had strong paws with long claws. The little boy ran even faster to the tree behind which his friend was hiding. "Now, come out and kill the bear!"

But the big boy had already seen the wild animal from afar. Full of fear, he had climbed far up the tree. From up there, he called out: "I'm here. Come up to me."

But the weak little friend didn't have the strength to climb up. So he lay down on the ground, curled up and pretended to be dead. The mighty bear came up to him, growling and snorting, and nudged him with his snout. The big man had to watch everything from above. The bear was about to eat his friend. But then he heard the bear suddenly stop growling and start making strange noises. The little boy opened his eyes and nodded: "Yes, I understood you bear. Thank you for your advice." The bear growled, turned around and disappeared into the forest. The big boy carefully climbed down from the tree and asked: "What happened? What did the bear tell you?" The little boy looked at the big boy seriously and replied: "He told me to stop following you blindly and to trust my own mind." The little boy took this advice to heart from that day on and chose his pleasures more carefully.

Fassung Anina Meile, nach: E. Schleberger, Märchen aus Sri Lanka, Köln 1982, englische Übersetzung Lysander Jaenike © Mutabor Märchenstiftung

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchen.ch

Sri Lanka, früher Ceylon, ist ein Inselstaat im Indischen Ozean. Es war bereits in der Antike ein wichtiger Knotenpunkt für die Seefahrt und den Handel. Dies führte unter anderem dazu, dass Sri Lanka heute von ganz unterschiedlichen Ethnien und Religionen bewohnt ist. Von 1983 bis 2009 herrschte ein offener Bürgerkrieg zwischen tamilischen Separatisten und den vorherrschenden Singhalesen, und es kam zu bis heute ungeklärten Menschenrechtsverbrechen. Starke Repressionen gegen Minderheiten prägen den Alltag, ausserdem die Gefahr von Minen, Blindgängern und gewaltsamen Eskalationen der schwelenden Konflikte.

 

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