Dort wo der Berg Triglav seine drei Spitzen in den Himmel streckt, lebte einmal ein Hirt mit seiner Frau in einer ärmlichen, strohgedeckten Hütte. Im Sommer trieb er die Schafe auf die höher gelegenen Weiden und brachte sie am Abend wieder ins Tal.
Einmal, da klopfte es am Abend an die Tür. Der Hirt öffnete, und draussen stand ein alter Mann. «Bitte, habt ihr ein Stück Brot für mich und einen Platz für die Nacht?» Der Hirt liess den Alten ein und bot ihm einen Platz am Herdfeuer an. Die Frau des Hirten brachte dem Mann eine Schüssel mit warmem Hirsebrei.
Der Gast ass gierig alles auf, und dann sprach er: «Ich danke euch für eure Gastfreundschaft. Zum Dank will ich euch etwas zeigen.» Er schaute zum Berghang hoch, wo der Mond sein weisses Licht auf die Reste einer Burg warf. «Vor vielen hundert Jahren lebte ich dort auf der Burg meiner Väter. Ich war ein gefürchteter Raubritter. Ohne zu zaudern, überfiel ich die Kaufleute, die ihre Waren über den Berg brachten, und häufte grosse Schätze an. Doch dann wurde meine Burg angegriffen, und ich starb im Kampf. Alles war zerstört, und ich musste fortan als Geist am Triglav herumirren. Doch heute sind die dreihundert Jahre herum, und ich habe genug Busse getan. Weil ihr mich heute Abend aufgenommen habt, will ich euch einen Rat geben: Geht in den Wald und sucht die Eiche, an deren Stamm ein Christusbild hängt. Oben im Wipfel der Eiche wächst eine Zaubermistel. Nehmt sie und geht in der Nacht zur zwölften Stunde in die Burg. Mithilfe der Zaubermistel werdet ihr den Schatz heben.» Nach diesen Worten wurde der seltsame Gast immer heller und heller, bis der Geist verschwand.
Der Hirt und seine Frau standen staunend am Feuer. Dann fassten sie sich an den Händen und beschlossen, sich am nächsten Tag auf die Suche nach der Zaubermistel zu machen. Am anderen Morgen wanderten sie in den Wald. Sie sahen viele Eichen, doch keine war die richtige.
Nach vielen Stunden kamen sie zu einer Hütte. Sie klopften an, und ein altes Mütterchen öffnete die Tür. «Was wollt ihr hier in meinem Wald?», fragte sie grimmig.
«Wir sind auf der Suche nach der Zaubermistel», sagten die beiden. «Aber wir können sie nirgendwo finden.»
«Das ist schwer», sagte das Mütterchen etwas freundlicher. «Wandert weiter, immer Richtung Sonnenaufgang, dann kommt ihr zu der Eiche mit der Zaubermistel. Es ist schwer hinaufzuklettern und schwer, die Mistel zu pflücken. Doch sie leuchtet in grünem Schein, und die weissen Beeren glänzen wie Perlen. Wenn ihr die Zaubermistel gepflückt habt, so flieht, so schnell ihr könnt, und sprecht kein einziges Sterbenswörtchen, sonst ergeht es euch schlecht.»
Der Hirt und seine Frau dankten dem alten Mütterchen und machten sich auf den Weg Richtung Sonnenaufgang. Nach langer, langer Wanderung fanden sie die Eiche mit dem Christusbild, und ganz oben im Wipfel der Eiche leuchtete ihnen die Zaubermistel entgegen.
Mit Müh und Not schafften sie es, die Eiche hochzuklettern, und nur mit grosser Kraft konnten sie die Mistel schneiden und wieder vom Baum herunterklettern. Noch schwerer aber war es, kein Wort dabei zu sprechen.
Dann flohen sie durch den Wald und kamen spät in der Nacht zu der Ruine der Burg. Wie von unsichtbarer Hand führte die Zaubermistel sie zu einer Tür, die in den Keller führte und von dort zu einem Gewölbe.
Sie brauchten nicht lange zu graben, da stiessen sie auf eine eiserne Truhe, die war so schwer, dass sie sie kaum tragen konnten. Zu Hause angekommen öffneten sie das Schloss und sahen, dass die Truhe voller Gold und Silber war. Voller Freude tanzten die beiden in der Hütte herum. Sie teilten ihren Schatz mit denen, die genauso arm waren wie sie zuvor, und liessen eine Kapelle errichten, damit der Burggeist seine Ruhe fand.
Noch heute erzählt man sich die Geschichte von der Zaubermistel, die den beiden das grosse Glück gebracht hat.
Pflanzenmärchen aus aller Welt, © Mutabor Verlag
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch