Es war einmal, es ist noch gar nicht so lange her, ein armer Bauer, der lebte mit seiner Frau auf einem kleinen Bauernhof. Im Sommer mussten sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang das Korn dreschen. Am Abend assen sie ein paar Kartoffeln, um anschliessend auf ihren strohgefüllten Matratzen zu schlafen. Am letzten Abend aber, als alles Korn gedroschen war, sagte der Bauer zu seiner Frau: «Backe uns doch zur Feier des Tages Pfannkuchen!» Die Frau aber sprach: «Ach, mein Lieber, wir haben kein Mehl im Haus, und ich habe keine Kraft mehr, um bis zur Mühle zu gehen und welches zu holen.»
«Dann werde ich gehen!», rief der Mann, nahm seinen Hut und machte sich auf den Weg. Er beeilte sich sehr und bald kam er an einen Hohlweg. Vorsichtig ging er, Schritt für Schritt, unter den Ästen hindurch. Er hörte die Blätter der Bäume rauschen, hob die Augen und erkannte an den weissgrauen Stämmen, dass es zwei alte Buchen waren, die ihre Äste bewegten und sich näher kamen, so als wollten sie sich umarmen. Der Bauer blieb stehen und hörte, wie die eine Buche mit menschlicher Stimme leise zu der anderen murmelte: «Ich glaube du frierst, Maharit, du zitterst ja.» Und der zweite Baum antwortete flüsternd: «Ja, Jelvestr, ich bin ganz starr vor Kälte. Immer wenn die Nacht kommt, durchdringt mich die Kühle bis ins Innerste, wie ein erneuter Tod. Gut, dass es bei unserem Sohn heute Abend Pfannkuchen gibt, dann wird er den Ofen einfeuern. Wenn sie schlafen, werde ich hingehen und mich aufwärmen.» Der zweite Baum sprach: «Ich werde dich begleiten, ich lasse dich nicht allein, Maharit. Aber hättest du auf mich gehört, als du noch lebtest, müsstest du jetzt nicht ans Feuer unseres Sohnes gehen, um dich zu wärmen. Wie oft habe ich dir gesagt, dass du grosszügiger sein sollst mit den Armen. Doch dein Herz war kalt und du wolltest ihnen nie etwas geben.»
«So ist es!», seufzte der zweite Baum aus tiefster Seele. Der Bauer mochte nicht weiter lauschen. So schnell er konnte, rannte er den Hügel hinab zur Mühle. Auf dem Rückweg umging er den Hohlweg, damit er nicht noch einmal unter den zwei alten Bäumen hindurchgehen musste. N ach dem Essen wollte die Frau die Glut im Ofen löschen, doch der Mann hielt sie zurück. Er legte noch ein Stück Holz auf das Feuer und ging mit seiner Frau zu Bett. Die Frau schlief sogleich ein, doch der Mann lag wach. Die Nacht war still. Die Uhr schlug neun Uhr, zehn Uhr, elf Uhr – nichts geschah. Der Mann fing an zu zweifeln. Hatte er vielleicht alles nur geträumt? Doch um halb zwölf, da hörte man ein Geräusch wie Äste, die rauschen, und Blätter, die rascheln. Langsam kam das Geräusch näher, wurde lauter und lauter, und es hörte sich an wie Bäume, die im Sturm knacken. Der Mann begriff, dass es die zwei grossen alten Buchen waren, die zu seinem Haus kamen. Er schaute durch das Fenster und sah im Mondschein das silberne Glänzen ihrer mächtigen Kronen. «Schsch ...! Schsch ...!», raschelten die Blätter der riesigen Bäume.Der Mann zitterte vor Angst. Noch niemals in seinem Leben hatte er zwei Bäume gesehen, die rauschten wie ein ganzer Wald. «Sie werden das Haus erdrücken!», dachte er. Er hörte, wie die breiten Äste gegen sein Haus stiessen und die Blätter das Dach berührten. Ohne die Tür zu suchen, fanden die Bäume den Weg ins Haus. Der Bauer hielt sich die Hände vor die Augen und fürchtete sich vor dem, was nun geschehen würde. Doch von einem Moment auf den anderen wurde es still. Der Mann schaute vorsichtig durch die Bettvorhänge und was sah er? Sein Vater und seine Mutter sassen auf den Hockern nebeneinander vor dem Feuer. Die Alte hatte ihren langen Rock ein wenig hochgezogen und wärmte sich die Beine. «Fühlst du die Wärme, Maharit?», fragte der Alte. «Ja», sprach sie. «Gut, dass unser Sohn noch ein Stück Holz auf die Glut gelegt hat.»
Der Bauer weckte vorsichtig seine Frau auf und sprach: «Schau, beim Feuer, siehst du dort die zwei Alten, erkennst du sie?»
«Du träumst oder sprichst im Fieber, mein Armer. Dort ist niemand beim Ofen», antwortete die Frau. «Komm näher, dann siehst du sie», sprach der Mann und zog die Frau näher. Da riss sie vor Erstaunen die Augen weit auf und rief: «Grosser Gott, es ist dein Vater mit deiner Mutter. Was wollen die hier?»
«Das werde ich dir erzählen, wenn sie gegangen sind», flüsterte der Mann. Da hörten sie, wie der Alte am Feuer zu seiner Frau sagte: «Bist du nun ganz aufgewärmt, Maharit? Es ist Zeit zu gehen.»
«Ja, Jelvestr, jetzt ist mir richtig warm. Ich hoffe, ich habe bald genug Busse getan.» Als die Uhr Mitternacht schlug, standen die beiden Alten auf und verschwanden. Das Rascheln und Rauschen begann wieder. «Schsch ...! Schsch ...!», und bald sah man, wie sich die Umrisse der zwei alten Bäume im Mondlicht entfernten.Als die Nacht wieder still wurde, erzählte der Bauer seiner Frau das Geheimnis der zwei Verstorbenen. «Morgen», sprach seine Frau, «werde ich Kuchen für die Armen backen, die noch weniger haben als wir, und in der Kirche werden wir zwei Messen lesen lassen.»So machten sie es, und seit jenem Tag hat niemand mehr die zwei Buchen reden hören.
aus: Baummärchen aus aller Welt, © Mutabor Verlag