Kaum war einst der Winter vergangen, kaum hatte die wärmende Sonne den Schnee aus dem tiefsten Waldwinkel vertrieben, da strömte neues Leben über die Erde. Die Blumen breiteten bunte Teppiche aus, und die Vögel erfüllten die Luft mit ihrem Gesang. Am Flussufer öffneten die Weiden ihre Blattknospen, und die Birken schmückten Wald und Weg mit ihrem hellen Grün. Der Ahorn, die Buche, die alte Eiche mit ihren weitausladenden Ästen - ein Baum nach dem anderen entfaltete freudig sein Blättergewand.
Nur die Esche schlief und schlief. Sie vernahm weder die Stimmen der Vögel noch das Summen der Bienen ringsum. Nicht einmal der Sturm konnte sie wachrütteln. Erst als das Frühlingsgewitter zu toben begann, fuhr sie aus ihrem tiefen Schlaf auf. Und als sie endlich die grünen Blätter der anderen Bäume erblickte, fragte sie erschrocken: „Ist denn der Frühling schon da?“
„Schon lange, schon lange“, antworteten die Birken.
Da fragte die Esche lieber nicht weiter, da begann sie schnell, sich um ihr Kleid zu kümmern. Weil sie aber in so grosser Eile war, achtete sie nicht auf die Anzhal der Blätter, und so wurde es ein recht dünnes Kleid.
Als die anderen Bäume es sahen, schüttelten sie sich vor Lachen und verspotteten die Esche.
„Seht nur, seht!“ riefen sie und raschelten hämisch mit ihren dichten Blätterkleidern. „Willst du dich so dem Sommer zeigen?“
Die Esche schämte sich sehr.
Doch damit nicht genug. Tag für Tag musste sie fortan das Gespött der anderen Bäume über sich ergehen lassen. Wen wundert es also, dass die Esche sehnsüchtig auf den Herbst wartete um ihr dünnes Blätterkleid wieder abwerfen zu können.
Als nun der Sommer zu Ende ging, als der erste kalte Wind über die Wipfel strich, fragte die Esche gleich. „Kommt denn der Herbst nicht bald?“
„Er zieht schon ein, er zieht schon ein“, lispelte der Wind.
Da seufzte die Esche erleichtert auf. Und bevor noch der Herbst ihr grünes, ungeliebtes Kleid einfärben konnte, warf sie es ab. Die anderen Bäume aber liessen sich ihre Kleider rot und braun und gelb färben und rangen noch lange mit dem Wind um jedes einzelne Blatt.
Den Winter verbrachte die Esche wie alle anderen Bäume in tiefem Schlaf. Kaum aber war der Winter vergangen, kaum hatte die wärmende Sonne den Schnee selbst aus dem tiefsten Winkel vertrieben, da entfaltete ein Baum nach dem anderen freudig sein Blätterkleid.
Nur die Esche schlief und schlief...
Aus: D. Jaenike, Baummärchen aus aller Welt, © Dausien Verlag.