Es war einmal ein König. Er herrschte ein Jahr, herrschte zwei Jahre, herrschte drei Jahre. Alle fürchteten ihn, alle krochen vor ihm. Und das langweilte den König. Er saß auf dem Thron und langweilte sich. Einmal ließ er die Musikanten aus dem ganzen Land in seinen Palast kommen. Die Musikanten spielten ihm auf ihren Flöten und Zithern, Tamburinen und Trommeln auf. Und langweilten den König zu Tode. Da befahl er Tänzer zu sich. Die Tänzer tanzten so lange, bis sie sich kaum noch auf den Beinen hielten. Der König aber wollte sie gar nicht mehr anschauen. Er langweilte sich. Da befehl der König die kunstfertigsten Reiter zu sich. Sie ritten vor den Augen des Königs, sowohl im Sattel sitzend als auch auf dem Pferderücken stehend, sie ritten auf ebenem Gelände und über Berghänge. Der König sah zu und gähnte, gähnte und sah weg. Der König langweilte sich. Nun befahl er die stärksten Ringer in den Palast. Die Ringer rangen und zeigten ihre Kraft und Geschicklichkeit. Und langweilten den König nur noch mehr. Der König saß da und sann, wie er sich erheitern könne. Und hatte schließlich einen Einfall. Er schickte Boten auf allen Wegen aus und ließ auf allen Plätzen und Kreuzungen seinen königlichen Befehl anschlagen: »Unser gnädiger König läßt, um seiner tiefen Schwermut abzuhelfen, folgendes verkünden: Wer ein so schlaues Lügenmärchen erfindet, daß selbst der König hinters Licht geführt wird, der wird mit einem goldenen Apfel belohnt.« Nun gibt es viele Menschen auf der Welt, denen Lügen leicht über die Lippen gehen, und hier versprach man ihnen sogar einen goldenen Apfel dafür. Da wurde sogar der Ehrlichste zum Lügen verleitet. Viele Leute strömten zum König: Würdenträger und Händler, Richter und Wechsler. Sie logen das Blaue vom Himmel herunter und faselten alles mögliche zusammen. Der König aber winkte bloß müde ab: »Verzieht euch, ihr ödet mich an! Ihr könnt nicht mal richtig lügen!« Eines Tages fand sich ein armer Mann im Palast ein. Er verneigte sich tief vor dem König und stellte einen Krug vor ihn hin. »Was wünschst du?« fragte der König erstaunt. Der arme Mann antwortete: »Ich möchte deine Schulden bei mir eintreiben. Hast du denn vergessen, o Herr, daß du mir einen Krug voll Gold schuldest?« Der König wäre fast vom Thron gefallen. »Was - du bist wohl von allen guten Geistern verlassen? Wann soll ich das Gold bei dir geliehen haben? So einen Lügner habe ich noch nie getroffen!«
»Da ich ein so guter Lügner bin«, sprach der Arme, »bist du mir zumindest den goldenen Apfel schuldig. Für einen armen Mann ist das nicht wenig.« Der König sah, daß er hereingefallen war, er saß wie eine Maus in der Mausefalle . »Und du willst ein Lügner sein?« sagte er. »Ist das denn ein Lügenmärchen?«
»Wenn's keins ist«, sagte der Arme, »dann schütte Gold hinein«, und klopfte mit dem Finger gegen den Krug. Der König wußte nicht, was er tun sollte. Den goldenen Apfel wollte er nicht hergeben, aber einen Krug voller Goldmünzen erst recht nicht. Er überlegte hin und her, aber ihm wollte nichts einfallen. Und so blieb ihm nicht übrig, als sich vom goldenen Apfel zu trennen. Der Arme freute sich. Seitdem kannte der König keine Langeweile mehr.
Quelle: V.Gazak, Das Buch aus reinem Silber, Düsseldorf 1984
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch