Der Ziegenhirt und die Himmelsfrau

Land: Schweiz
Region: Freiberge
Kategorie: Zaubermärchen

 

Ob es wahr ist oder nicht, es lebte einmal ein Ziegenhirt im Tal, der sass jeden Tag unter den Weiden und hütete seine Tiere. Einmal aber sah er, wie an einem silbernen Faden schöne junge Mädchen in rot-weissen Kleidern vom Himmel herabstiegen. Sie sahen den Hirten nicht, der sich in den Weidenbüschen versteckt hatte. Aber er sah, wie sie ihre Kleider ablegten, in den Fluss sprangen und wie Fische im Wasser schwammen. Dem Hirten stockte der Atem, so verzaubert war er. Noch nie hatte er etwas so Schönes gesehen.

Von diesem Tag an kamen die Mädchen immer wieder, um zu baden.

An einem Tag wartete der junge Mann, bis sie im Wasser untergetaucht waren. Dann sprang er schnell hervor, nahm eines der schönen Kleider und lief damit davon. Doch eines der Mädchen hatte den Dieb bemerkt. Es waren ihre Kleider, die er gestohlen hatte, und so rannte sie ihm hinterher. Sie lief schnell, aber er war schneller und erst als die Sonne schon untergegangen war, hatte sie ihn eingeholt. Doch nun war der Silberfaden fort und sie konnte nicht mehr in den Himmel zurückkehren.

«Bleibe bei mir und werde meine Frau», sagte der junge Mann.

Die junge Frau sprach: «Gut, ich bleibe bei dir. Aber im Sommer darfst du mich niemals allein zu Hause lassen, sondern musst mich mit auf die Weide nehmen, wenn du die Ziegen hütest.»

«Aber warum?», wollte der junge Mann wissen.

«Frag nicht, es ist besser so.»

Der junge Mann fragte nicht weiter. Stattdessen küsste er die junge Frau und brachte sie mit nach Hause. Es wurde Hochzeit gefeiert und bald waren die beiden Mann und Frau. 

Es wurde Herbst, Winter und schliesslich Frühling.

Als der Sommer kam, führte die Frau jeden Tag mit ihrem Mann die Ziegenherde auf die Weide. Doch nach sieben Tagen bat der Hirte seine Frau, zu Hause zu bleiben.

«Die anderen Hirten lachen mich aus. Sie sagen, du bist wie eine Ziege in der Herde und andere unschöne Dinge. Bitte bleibe heute zu Hause.»

Die Frau weinte bittere Tränen, doch sie blieb zu Hause. Sie schloss sich ein und wollte niemandem die Tür öffnen. Als es am Nachmittag immer heisser wurde, hielt sie es nicht mehr aus. Sie verliess das Haus und rannte zum Fluss. Schnell zog sie sich aus, legte ihre Kleider unter die Weiden und sprang ins Wasser. Sie schwamm und tauchte wie ein Fisch und war überglücklich.

Nicht lange, da kamen ihre Freundinnen an einem silbernen Faden aus den Wolken herab. Gemeinsam spielten sie im Wasser, bis die Sonne sich langsam nach Westen neigte. Da sprachen die Freundinnen: «Komm mit uns nach Hause. Wir haben auch für dich einen Faden gesponnen. Schnell, zieh dich an, bevor der Hirte mit den Ziegen kommt!»

Flugs schlüpften alle in ihre Kleider und kletterten an den silbernen Fäden hinauf in den Himmel. Genau in diesem Augenblick kam der Hirte mit seinen Ziegen von der Weide zurück. Er sprang ans Flussufer, aber zu spät. Er sah nur noch, wie seine Frau für immer in den weissen Wolken verschwand. Da begann er zu weinen. Er weinte und weinte, ja es heisst, dass sogar die Ziegen weinten.

Aber als er genug geweint hatte, schüttelte er den Kopf und sagte sich: Es ist besser so. Mit einer Himmelsfrau konnte es nicht gut gehen. Dann machte er sich mit den Ziegen auf den Heimweg und sang ein Lied. Wahrscheinlich hat er bald eine tüchtige Frau aus dem Tal geheiratet.

Die Himmelsfrauen aus den Wolken, die hat er nie wieder gesehen.

 

Aus: G. Lovis, J. Surdez, Vieux Contes du Jura, Porrentruy 1991, unter dem Titel: «Le chevrier». Aus dem Französischen übersetzt und neu erzählt unter Mitwirkung von Maggie Rüeger

© Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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