Die Fünflinge

Land: Schweiz
Region: Ajoie, Freiberge
Kategorie: Zaubermärchen

In Morteau lebte einmal eine junge Frau, die sich nichts sehnlicher wünschte als ein Kind. Aber ein Jahr nach dem anderen verging, ohne dass sich ihr Wunsch erfüllte. Schon zehn Jahre war sie verheiratet und immer noch nicht guter Hoffnung. In ihrer Verzweiflung betete die Frau jeden Tag zur Muttergottes und endlich war es soweit. Die Freude war gross, als der Tag der Geburt kam. Aber statt einem Kind brachte sie fünf Kinder zur Welt! Vielleicht hatte sie zu viel gebetet?

Es waren fünf Jungen, und so sehr sich die Eltern freuten, so sehr machten sie sich Sorgen, wie sie die Fünflinge in den nächsten Jahren satt bekommen sollten.
Nun war da aber eine alte Tante, die sollte die Patin der Buben werden. Sie sagte: «In den ersten Jahren werden es die  Jungen schwer haben, aber später werden sie reich sein und die Goldtaler kaum zählen können!»
So prophezeite es die Patin und sie bestimmte auch gleich die Namen der fünf Jungen: «Der erste soll Grossschluck heissen, der zweite Dickhaut, Astlang, der dritte, der vierte Feueraus und der fünfte Ohneschnauf.»
Den Eltern gefielen die Namen gar nicht, aber mit dieser Tante sollte man sich besser nicht streiten, sie war streng und hatte eine schnelle Hand. Auch der Patenonkel sagte nichts und der Priester taufte die fünf Jungen, ohne sich über ihre Namen zu wundern.

So verging die Zeit, die Jungen wurden gross und stark und bald waren zwanzig Jahre vergangen. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen und waren doch ganz verschieden.
Grossschluck konnte einen Brunnen mit einem Schluck leeren, Dickhaut spürte nicht einmal, wenn die Mutter ihn mit dem Besenstiel schlug, Baumlang konnte sich so lang machen wie eine Tanne, Feueraus konnte in die Glut greifen, ohne sich zu verbrennen, und Ohneschnauf konnte eine Stunde lang aushalten, ohne Luft zu holen.

Grossschluck brachte jeden Tag Fische nach Hause. Er trank einfach das Wasser aus dem Doubs, und dann brauchte er sie nur noch aufzusammeln: Forellen, Hechte, Rois-du-Doubs und Barben. Was sie nicht aufessen konnten, wurde verkauft, und bald gehörte die Familie zu den reichsten Leuten in Morteau.

Aber dann geschah das Unglück. Grossschluck hatte den Schlossteich von Morteau mit einigen Schlucken ausgetrunken, und dann seine übervolle Blase in den Teich entleert. Dabei hatte er übersehen, dass die jüngsten Kinder des Schlossherrn in den Teich gefallen und fast ertrunken wären.

«Her mit dem Unhold, ich will ihn bestrafen!», sagte der Schlossherr und befahl Grossschluck, zwei Fässer Wasser leerzutrinken. Ihr könnt euch denken, dass das für ihn eine leichte Sache war.

Verärgert rief der Schlossherr: «Komm morgen wieder, dann lasse ich dich verprügeln!»
Am nächsten Tag ging Dickhaut zum Schloss; sie sahen sich so ähnlich, dass es niemand bemerkte. Er blinzelte nur ein wenig, als er die Schläge bekam, weil sie ihn kitzelten.

Da wurde der Schlossherr wütend und sagte: «Komm morgen wieder, dann werfe ich dich in den Schlossbrunnen.»
Am nächsten Tag ging Baumlang hin und niemand merkte, dass er nicht Grossschluck war. Man warf ihn in den Brunnen, aber er streckte sich so, dass der Kopf über Wasser blieb.

Der Schlossherr ärgerte sich und rief: «Komm morgen wieder, dann werfe ich dich in den Ofen!»

Am nächsten Tag ging Feueraus zum Schloss. Niemand merkte, dass er nicht Grossschluck war, und so warf man ihn in den Ofen. Kaum war die Tür geschlossen, blies Feueraus einmal und die Glut erlosch.

Zornig rief der Schlossherr: «Morgen kommst du wieder und dieses Mal werde ich dich lebendig begraben!»

Am nächsten Tag ging Ohneschnauf zum Schlossherrn. Am Abend wurde er in eine Grube geworfen und mit Erde zugedeckt. Niemand hatte gemerkt, dass es nicht Grossschluck war, und so wartete Ohneschnauf eine Stunde, dann kamen schon seine Brüder und gruben ihn unbemerkt aus.
In der Nacht konnte der Schlossherr nicht schlafen, denn seine älteste Tochter weinte bitterlich in ihrem Zimmer. So oft hatte sie nun den vermeintlichen Grossschluck gesehen und sich unsterblich in ihn verliebt. Seinen Tod würde sie nicht verschmerzen! Am nächsten Morgen ging der Schlossherr schnell zur Grube, doch was sah er: Sie war leer!

Sofort liess er Grossschluck suchen. Aber wie staunte er, als fünf Männer zum Schloss kamen, die sich glichen wie ein Ei dem anderen.
«Wer ist Grossschluck?», wollte der Schlossherr wissen. Da trat dieser vor. «Du sollst meine älteste Tochter heiraten!» Das tat Grossschluck gerne. Die anderen vier heirateten ebenfalls fürstliche Töchter und sie feierten alle am selben Tag Hochzeit

Ich war eingeladen und sass mit der alten Patentante am Tisch. Weil sie einen Tropfen an der Nase hatte, fing ich an zu lachen. Da gab sie mir eine Ohrfeige, dass ich bis hierher geschleudert wurde. Oder bin ich etwa nicht hier?

 

Aus: G. Lovis, J. Surdez, Vieux Contes du Jura, Porrentruy 1991 unter dem Titel «Les cinq jumeaux». Aus dem Französischen übersetzt  und neu erzählt unter Mitwirkung von Maggie Rüeger.

© Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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