Der unsichtbar machende Stein

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es lebte vor vielen Jahren in Sagens ein Hirtenknabe, welcher Tag für Tag mit den Geissen des Dorfes in die Berge zog. Das war eine beschwerliche Reise. – Dessen ungeachtet war der Knabe immer guter Laune, und sang, und jodelte, dass man's weit und breit im Thale hörte.

Eines Tages, als er wieder einen Weideplatz erreicht hatte, bekam er Durst, und suchte eine Zeit lang vergebens auf der Weide nach einem Trunke frischen Wassers. Endlich entdeckte er unter einer hohen Tanne eine kleine Quelle. Er kniete nieder, und schlürfte begierig das willkommene Labsal in den trockenen Gaumen.

Wie er nun so über die Quelle sich hingebeugt hielt, erblickte er in Derselben das Abbild der Tanne über ihm, und auf einem Aste der Tanne ein Vogelnest. Auf, und die Tanne hinan, war Eins, wie ja jedes Buben grösste Lust ist, die Eier in einem Vogelneste zu begucken.Trotz einem Eichhorn kletterte er von Ast zu Ast, bis zur Stelle, wo er das Nest zu finden hoffte. – Aber der Ast war leer, und kein Nest zu finden.

Im Glauben, das Nest sei heruntergefallen, kletterte er zurück, und suchte es am Boden; – aber er fand kein Vogelnest.Nun suchte er am Rande der Quelle, und – erblickte im Wasser das Nest noch auf demselben Aste, an der gleichen Stelle, wie das erste Mal.

Er merkte sich die Stelle genau, und kletterte zum zweiten Mal die Tanne hinan.

Wiederum konnte er auf dem verwünschten Aste kein Nest finden. Im Glauben, Dasselbe sei nur unter einem Nadelbüschel verborgen, langte er hin, und zog ein schneeweisses Steinchen von der vertieften Stelle, wo er das Nest versteckt wähnte, hervor: und kaum hatte er dieses Steinchen in der Hand, so erblickte er auch das Nest selber.

Voller Freude über das glänzende Steinchen, jodelte er fortwährend auf dem Heimwege. Wie er mittlerweile dem Dorfe sich näherte, begegneten ihm Leute, die alle wie verwundert stille standen und staunten. Der gute Bursche glaubte, Alles bewundere sein Gejodel, und je mehr die Leute verwundert gafften, umso mehr ließ er sich hören.

Aber immer noch nicht merkte er, dass der kleine, glänzende Stein, den er im Vogelneste gefunden, die Eigenschaft hatte, den, der ihn bei sich trug, unsichtbar zu machen. – Die Leute, die, wie er urtheilte, sich schmeichelte, seiner schönen Stimme wegen stille standen, hörten ihn wohl jodeln und singen, konnten ihn aber nicht sehen, weil er durch das Steinchen ihnen unsichtbar geworden.

Er kam nun heim, und trat singend in die Stube, wo Eltern und Geschwister ebenso erstaunt ihm schienen, als die Leute auf der Gasse. Dieses Erstaunen konnte er sich aber nicht erklären, und es fing an, ihm Angst zu werden, was das sei, und wie das Alles so gekommen, bis der Vater, der ihn wohl hörte, aber auch nicht sehen  konnte, erschreckt rief: »Um Gotteswillen, Bub, was hast Du gethan?«

Nun erzählte er die Geschichte mit dem schönen Steinchen, und wurde nun inne, wie Dasselbe ihn unsichtbar gemacht. Der Vater erkannte in diesem Steinchen ein böses Zeichen, forderte es von dem erschrockenen Buben ab, und alsbald ward Derselbe sichtbar. 

Das »verhexte« Steinchen (ein unsichtbar machendes Steinchen, das man nur in dem Neste eines Zeisiges findet) wurde zum Fenster hinausgeworfen, und von Stunde an blieb der Knabe sichtbar, wie zuvor. Aber zeitlebens trauerte er um sein Kleinod, und war seitdem nimmer so lustig, wie an dem Tage, wo er das Steinchen gehabt.

Quelle: Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden, Teil III, Chur 1878

 

 

 

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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