Die Sage vom Sasso Romanin

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Westen des Dorfes Preonzo in der Riviera erhebt sich jäh und steil abschüssig in wilder Schönheit das Gebirge. Etwa zweihundert Meter vom letzten Haus des Dorfes Preonzo entfernt liegt auf einer einsamen hübschen Wiese, die sich ein wenig talabwärts neigt, noch heute sichtbar ein ungeheurer Felsklotz, der ein erstaunliches Gewicht haben mag. Und er ruht nicht einmal völlig auf dem Boden, sondern scheint von einem Augenblick zum andern mit Donnergetöse und schwindelerregender Schnelligkeit auf das friedliche Dörflein zu rollen, wo er die Häuser zerschmettern und Tod und Verzweiflung mit sich bringen würde.

Die Sage erzählt, dass jener kolossale Block von niemand anderem als vom Teufel dahin getragen worden sei. Es heisst, die Bewohner von Preonzo seien vor vielen, vielen Jahren über alle Massen verdorben gewesen, vielleicht noch mehr als in grauer Vorzeit die Städte Sodom und Gomorrha, die vom Feuer des Himmels zerstört wurden. Der Teufel, welcher sehr froh war und sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, hier einmal ein grosses Netz voll verlorener Seelen zu fangen, dachte darüber nach, wie er das gottlose Dorf gänzlich vernichten könnte.

In einer stockfinsteren Nacht lud er auf seine riesenhaften Schultern einen mächtigen Felsblock aus Granit und machte sich damit mühsam auf den Weg. Er war schon oberhalb des ruchlosen Dorfes angekommen und wollte eben den Stein in die Tiefe schleudern, als ihm plötzlich ganz in strahlendem Licht das süsse Bild der Madonna erschien.

«Was willst du tun, Satan?» fragte sie ihn mit freundlicher Stimme. «Ruhe dich doch einen Augenblick aus. Du bist gewiss sehr müde.»

Und während sie so sprach, legte die Himmelskönigin ihre schnee-weisse reine Hand auf den Felsblock und brachte ihn zum Stehen. Der Satan versuchte, den ungeheuren Block in die Tiefe zu rollen; aber es gelang ihm auf keine Weise, ihn vom Fleck zu bringen. «Verflucht», schrie er und verschwand mit gewaltigem Lärm, ganz eingehüllt in schwarzen, dichten Rauch und Qualm, aus dem rote Flammen hoch in die Luft emporzüngelten.

So blieb also durch Gottes Gnade der Block hier stehen. Auf einer Seitenwand des Steines bemerkt man noch heute den Abdruck der liebreichen Hand der Madonna, aber auch des gewaltigen Rückens des mächtigen Satans und sogar der Falten des Kleides, das der Böse trug.

Als die Einwohner von Preonzo am andern Morgen den ungeheuren Granitblock sahen, der gerade oberhalb des Dorfes drohend stand, überkam sie ein Schrecken. In diesem neuen Schwert des Damokles erkannten sie eine gerechte Warnung Gottes. Mit der Zeit wurden sie aus gottlosen und sündhaften Menschen gottesfürchtige Leute, welche auch ihre Kinder in der Ehrfurcht vor dem Herrn erzogen.

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                   

Walter Keller                                                         

Hans Feuz Verlag Bern

 

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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