Eine wackere Tessinerin

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf der rechten Seite des Langensees, ganz nahe an der Grenze gegen Italien, liegt in einer stillen Bucht, im Rücken von hohen Bergen geschützt, der liebliche Ort Brissago. Er erfreute sich schon seit alten Zeiten ungestörter Unabhängigkeit. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts hatten die Franzosen Oberitalien besetzt, und der Papst Julius II. suchte sie mit Hilfe der Spanier, der Venezianer, Deutschen und der Eidgenossen zu vertreiben. Überall sah man Kriegsheere, welche die Dörfer verwüsteten. Auch in Brissago war man vor einem Überfall nicht sicher. Um diese Zeit geschah folgendes:

Eines Tages legte eine Barke, die von Cannobio herkam und von einem Mann mit aller Kraft gerudert wurde, in Brissago an. Der Barkenführer stieg ans Land und erzählte den Leuten am Ufer, dass dort hinten eine Anzahl Ruderschiffe mit französischen Soldaten gegen Brissago gefahren käme. «Es sind die gleichen, welche das Dorf Viggiona in Brand gesteckt und den Ort Cannero ausgeplündert haben, wobei sie verschiedene Personen umbrachten. Wer sich in Sicherheit bringen will, hat keinen Augenblick zu verlieren. Sie sind schon dort, nicht mehr weit entfernt, und ohne die verzweifelte Anstrengung meiner beiden Arme wäret ihr von den Franzosen überrascht worden.»

Sogleich läuft diese Nachricht durch das Dorf, und die Leute eilen herbei. Die bevorstehende Gefahr, der Schrecken und die warnenden Worte des Barkenführers erhöhen die Unsicherheit und verbreiten jene Verwirrung, die sich in solchen Fällen der Menge bemächtigt.

In dieser Not trat Margherita Borrani, eine wackere Frau aus Brissago, mit fester Geistesgegenwart hervor, riet allen Leuten, sich versteckt zu halten und besorgt zu sein, dass keine menschliche Seele sich blicken lasse. Und ihr Rat bewirkte, dass in einem Augenblick alle Bewohner in den Häusern verschwanden und im Dörflein völlige Stille herrschte wie in einer Wüste.

Gleich darauf kam die kleine Flotte gegen Brissago herangerudert, und der Anführer gab das Zeichen, auszusteigen. Jetzt schritt Margherita Borrani gegen das Ufer, und der französische Anführer fragte sie von der Spitze des Schiffes aus: «Meine Frau, was ist das für eine Ortschaft hier?»

«Mein Herr», antwortete Margherita Borrani, ohne im Geringsten irgendwelche Verlegenheit zu zeigen, «es ist das armseligste aller Gebiete, die zu Frankreich gehören.»

«Was?» erwiderte der Anführer. «Ist das ein Land, das mit Frankreich befreundet ist?»

«Es ist, wie ich Euch sagte, der ergebenste Freund von Frankreich, wenn seine Armut es dieser Nation nicht als unwürdig erscheinen lässt, und diese Armut geht schon aus dem Namen des Ortes hervor.»

«Welches ist denn der Name dieses Nestes?»

«Sein Name ist Brix-ago, was gerade dieses bedeutet, wie Ihr wohl verstehen werdet.»

«Ich verstehe keinen Deut. Gib mir sogleich die Erklärung.»

«Leider ist die Erklärung leicht und kurz. ,Brix\' bedeutet in der Sprache dieser Bewohner am See soviel wie Splitter, d. h. nichts, will heissen, dieses Dorf ist so armselig, dass nicht einmal eine Fliege sich hier sättigen könnte. Und ,ago\' ist das feine Ding, das man zum Nähen braucht. Dieser zweite Name wurde beigefügt, um die Winzigkeit der Ortschaft anzudeuten, denn man kann sie vergleichen mit einer Nadelspitze. Sie ist so mager wie eine Nadel, und ihre ganze Habe könnte auf der Spitze einer Nadel Platz finden.»

«So sind also die Bewohner dieses Ortes Geister oder Teufel oder Antichristen, die von der blossen Luft leben? Was machen denn diese Taugenichtse, sich den Bauch zu füllen?»

«Auch die Ratten verlassen diese Häuser, wo sie nichts zu beissen finden und wo beständige Hungersnot herrscht. Infolge der natürlichen Armut dieser Gegend zogen die Einwohner einer nach dem andern fort und suchten sich andere Wohnsitze in verschiedenen Gegenden Italiens und der weiten Welt. Und die wenigen, die noch blieben, leben von ihrem Beruf.»

«Und was treiben denn diese Bettler und Galgenstricke?»

«Seht Ihr dort oben jene Felsen und jene Schluchten?» sagte Margherita, indem sie auf die Berge hinter Brissago deutete. «Dort hinauf klettert man, um das Gras von den Felshängen zu holen, weil das Vieh nicht hingelangen kann, um zu weiden. Und wahrlich kehren nicht alle, die dort hinaufkraxeln, mit gesunden Gliedern wieder zurück, denn ein Fehltritt, ein Steinchen, das unter ihrem Fuss ins Rollen kommt, genügt, um sie im Abgrund zu zerschmettern. Glücklich darum, wer mit heiler Haut wieder heimkommt und das bisschen Gras, das er gesammelt hat, herunterbringt. Dort lässt er es trocknen, und als Bündel auf dem Rücken trägt er es zum Verkauf. Dies ist das Handwerk der Leute aus Brix-ago.»

«Bei Gott, ein erbärmliches Handwerk!» brummte der. Anführer nicht ohne einen Ausdruck des Mitleids. «Wenn alle Franzosen solches tun müssten, da wären wir schön dran. Und weiter vorn», fuhr er fort, «was sind das für Dörfer?»

«Dort, kaum hat man diese Bucht hinter sich», sagte die aufgeweckte Brissagerin kaltblütig, «ist das Gebiet der Eidgenossen.»

Jetzt gab der Franzose, ohne weiter zu forschen, den Schiffern ein Zeichen, sie sollten umkehren.

Das ganze Dorf schaute mit ängstlicher Ungeduld aus dem Versteck zu, wie die Schiffe sich von Brissago entfernten, und kaum waren die letzten Barken hinter einem Felsen des Ufers verschwunden, so liefen alle Bewohner herbei und versammelten sich um Margherita, die, so genau es ging, ihnen das ganze Gespräch wiederholte.

Ein jeder bewunderte die feine List Margheritas und stimmte dem Giorgio Bazzi bei, der bemerkte: «Brissago verdankt es der Margherita Borrani, wenn es diesmal vor der Plünderung und wer weiss vor welch anderem Unheil bewahrt blieb.»

Während das ganze Volk frohlockend das eben Vorgefallene besprach, kam ein Bote, der von Ascona abgesandt war, um zu melden, dass eine Abteilung bewaffneter Eidgenossen vom obern See-Ende her gegen Brissago ziehe.

Margherita bat um die Erlaubnis, ihnen vor das Dorf entgegenzugehen und empfahl ihren Leuten, sie sollten sich wieder in den Häusern verstecken und ruhig verhalten. Dann machte sie sich raschen Schrittes auf den Weg, und einige Bürger folgten ihr aus der Ferne nach. Und nicht lange darauf traf sie auf die Schweizer. Eine kleine Schar marschierte dem Heer voraus. Als diese der Brissagerin begegneten, hielten sie an und fragten:

«Woher kommst du, Frau?»

«Von jenem Dorf, das ihr dort seht, meine Herren.» «Wer regiert dort und wem gehört dieses Dorf?» «Es gehört den Schweizern.»

«Gehört dein Dorf also nicht zur heiligen Liga des Papstes?»

«Doch, ich habe es euch gesagt, mein Dorf gehört der heiligen Liga der Eidgenossen.»

«Ah, ah!» sagte hierauf einer der Kriegsleute, der offenbar einer der Anführer war. «So haken also deine Landsleute die Schweizer für Heilige! Aber den Heiligen errichtet man doch Altäre! Habt ihr solche aufgestellt?»

«Oh!» entgegnete die Frau mit Heiterkeit, «sie würden freilich verdienen, dass man ihnen Altäre baute, sie, die auf dem Rüth, Morgarten, Laupen, Sempach, Näfels, Grandson und Giornico solchen Mut zeigten und solchen Opfersinn für die Erhaltung ihrer Freiheit. Die heilige eidgenössische Liga ist ein Stern, der inmitten von Europa glänzt, inmitten der Unordnung und Tyrannei, die alles verwüstet und verdunkelt. Und nicht nur in jenem armseligen Dörf¬lein, sondern in ganz Europa haben die Eidgenossen einen Altar in jedem edlen Herzen.»

Diese Worte der Frau tönten jenen Kriegsleuten wie süsse Musik in den Ohren, so dass sie einander mit Erstaunen und Befriedigung anschauten. Dann fragte der, welcher der Anführer zu sein schien, weiter:

«Was ist das für ein Dorf, Frau, wo du wohnst?»

«Es ist ein Dörflein», entgegnete Margherita, die im Innersten beglückt war, dass sich ihr die Gelegenheit bot, den Fremden jede Lust zu nehmen, Brissago zu besuchen, «es ist ein Dorf, wo nur wenige Fischer wohnen, die nur darum dort bleiben, weil jedem Vogel sein Nest lieb ist. Aber kein Fremder würde dort wohnen mögen. Alle fliehen wie vom Entsetzen getrieben.»

«Und warum denn?» fragte der Schweizer mit wachsender Neugier.

«Weil sich niemand gern dem Hunger ausliefert. Es ist ein kleiner Winkel zwischen den Klippen des Ufers, ohne Land und ohne Erzeugnisse. Deshalb nennt man jene Gruppe elender Hütten in der ganzen Umgegend nur Brix-ago, denn, brix\' bedeutet hierzulande soviel, als was einer Ameise genügen kann, und ,ago\' ist die Spitze einer Nadel. So nennt es das ganze Volk, da man seine Kleinheit und sein Elend nicht besser ausdrücken kann, als indem man es mit dem Bissen einer Ameise und der Spitze einer Nadel vergleicht.»

Diese Rede strömte aus Margheritas Mund mit so viel Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit, dass sie jeden Zweifel ausschloss.

Jene Eidgenossen hatten einen so günstigen Eindruck bekommen von Brissagos Anhänglichkeit zu ihrer Partei, dass sie sich die Mühe ersparen konnten, nach Brissago vorzudringen, um es zu erobern. Und diese Lust verging ihnen umso mehr, wenn sie an die Armut und Hungersnot der dortigen Bewohner dachten, zumal doch die Soldaten lieber dorthin gehen, wo sie reichlich zu essen finden und wo grosse Weinfässer stehen.

Sobald sie also den Stand der Dinge vernommen hatten, beratschlagten sie eine Weile untereinander in ihrer Sprache, kehrten dem Dorf hierauf ohne weiteres den Rücken und zogen sich wieder in der Richtung gegen Ascona zurück, von woher sie gekommen waren.

Nun ist es nicht leicht, den Jubel zu beschreiben, der an jenem Abend in Brissago herrschte, und das Fest, das man der Retterin des Dorfes bereitete. Die Mütter führten ihre Kinder herbei und küssten ihr die Kleider.

In der Tat wurde Brissago nachher nicht mehr belästigt noch bedroht und fuhr fort, sich mit seinen eigenen Leuten selber zu regieren, glücklich in seiner Einfachheit und zufrieden, von den grossen Herren der Welt vergessen zu sein.

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                   

Walter Keller                                                         

Hans Feuz Verlag Bern

 

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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