Die Gräfin auf der Lusgen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf dem Gletscherbord des obern Aletschgletschers liegt die Alp Lusgen. Geht man zu den obersten Alphütten, wo das Vieh erst anfangs August hinaufgetrieben wird, und steigt hinunter zu den blau und grün schimmernden Gletscherbändern, so gelangt man an eine Stelle, wo der Fels infolge der Verwitterung in hundert und tausend einzelne Blöcke und Tafeln zerfallen ist. Man nennt einen solchen Ort der Zerstörung ein Felsenmeer. Die Blöcke liegen kreuz und quer durcheinander. Bald sind es grosse Würfel, bald Pyramiden und Platten, bald stehen sie aufrecht, bald liegen sie waagrecht wie steinerne Tische, und das ist das häufigste, weshalb der Ort auch «zen Tischen» genannt wird. Hier liegt seit uralter Zeit ein grosser Schatz verborgen. Alte Sennen behaupten keck, ihn schon gesehen zu haben, besonders zur Zeit des Sonnenunterganges. Das Silber, das auf diesen Platten glänzte und gleisste, hätte sie schon gelüstet, aber eine vornehme Frau in schneeweissen Kleidern, die dabei sass, und die nur ein böser Geist sein könne, hätte sie immer abgeschreckt.

Einst zog ein armer Senne, ein Quatemberkind, der von diesen Schätzen und der weissen Frau nichts wusste, bei den Platten vor­bei, um einem verlorenen Schaf nachzusteigen. Da flog unweit von ihm ein Schmetterling auf mit grossen, goldenen Flügeln. Er haschte danach und glaubte ihn schon in der Hand zu halten, als er ihm wieder entwischte und eilig davon flatterte. Er jagte ihm nach, da verschwand der Schmetterling in einer Spalte zwischen den Tischen. Der Senne vergass plötzlich den Schmetterling, denn er sah, dass die Steinplatten mit schimmernder Leinwand bedeckt waren, wor­auf Silberschätze lagen, so viel sich ein Herz nur wünschen mochte. Der Glanz dieser Kostbarkeiten blendete sein Auge so sehr, dass er die Hand davorhalten musste, und jetzt, wie erschrak er! Ganz nahe neben ihm sass eine schöne Frau auf einem Tische. Ihr zur Linken lag ein Haufen Goldes, zur Rechten ein Haufen Silberlinge; sie tischte das Gold nach rechts, das Silber nach links und war so ver­tieft in das Hin- und Herlegen, dass sie seiner nicht zu achten schien. Das dunkle, schwere Haar war in einen Knoten gebunden, und ihre Kleider, aus feinster Seide gesponnen, glänzten wie Mond­schein. Um den Hals trug sie eine goldene Kette, die blitzte wie Tautropfen im Strahl der Morgensonne. Jetzt öffnete sie die schwar­zen Augen, richtete sie auf ihn und winkte ihm, näher zu kommen; doch es schauderte ihn ob der fremden, blendend weissen Marmor­gestalt. Er schlug sich mit der Faust vor den Kopf, um zu sehen, ob er wache oder träume: «Fliehen darf ich doch nicht vor einer Frau, das wäre zu schämig.» So trat er näher und grüsste freundlich. Nun sah er erst, dass ihr Kleid mit Diamanten übersät war, die wie Eiskristalle glitzerten und in allen Farben des Gletschers und des Regenbogens funkelten. Etwas so Vornehmes und Schönes hatte er auch im Traume noch nie gesehen.

Der kalte Zug im Gesicht der Frau verschwand; ein freundliches Lächeln überflog ihr Gesicht, und ihre Augen glänzten wie die Sterne in tiefer Nacht. Er wollte die Frage stellen: «Frau Gräfin, was wünscht Ihr von mir, ich bin ein armer Senne», ... schau, da richtete sie sich auf. Sein Herz klopfte vor Angst, dass er zitterte wie Rispengras im Windeshauch, und die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Eine fürchterliche Angst überfiel ihn, er ergriff die Flucht und flog nur so über die Platten weg der Alp zu. Er ver­nahm ein Donnern und Krachen hinter sich, als ob der ganze Berg zusammenstürzte, und als das schreckliche Getöse verhallte, hörte er ganz dicht hinter sich seufzen, allein er wagte sich nicht umzusehen, bis er die Hütte erreicht hatte. Die ganze Nacht konnte er kein Auge schliessen, immer sah er das schöne weisse Gesicht der Gräfin und die unermesslichen Silberschätze. und er sagte sich, er habe das alles durch seine kindische Furcht verscherzt. Die Gräfin hätte ihm gewiss nichts zuleide getan. Er wurde zornig auf sich selbst und nannte sich einen Narren und Feigling. Des Morgens in aller Frühe wollte er wieder aufbrechen, gegen die Platten hinaufsteigen, sich vor der Frau niederwerfen und sich reuig und demütig zeigen.

Kaum brach der junge Tag an, so wanderte er bergauf und über­legte sich, was er der Frau mit den Silberschätzen alles sagen wollte. In Gedanken sah er sich schon als reichen Mann. Die schöne Alp wollte er an sich bringen, dann ins Eringertal reisen, dort die schön­ste Herde kaufen und an den grossen Frühjahrs- und Herbstmärkten mit einem schweren Geldsack auf den Brigermarkt ziehen.

Als er die Platten erreichte, war es noch nicht Mittag, und er musste warten, bis die Abendsonne den Westen rötete. Er entfernte sich wiederum von dem seltsamen Orte, schritt über die Alpweiden und gedachte erst am Abend zurückzukehren; da würde dann die Gräfin schon auf den Tischen sitzen und ihn vielleicht erwarten. Als die Sonne sank, kehrte er um und sprang über die Felsentrümmer bis zu der Stelle, wo er gestern die vornehme Frau gesehen hatte. Dies­mal wollte er standhaft sein. Aber die Platten waren leer, nichts sah er, als die mit grauem Moos überzogenen Felsenwürfel, die wohl schon eine Ewigkeit hier herumlagen. In der Tiefe hörte er das Herdengeläute der weidenden Tiere, hier oben aber regte sich nichts, die Sonne versank hinter den Bergen, und die Nacht stieg herauf aus dem Rhonetal. Wie schwarze Tücher glitten die Schatten den Wänden und Halden entlang aufwärts, deckten weit unten die Alphütten zu und rückten immer näher, so dass er kaum mehr die einzelnen Blöcke unterscheiden konnte. Da nützte es nichts mehr, länger hier oben zu verweilen. Traurig wanderte er wieder haldab, und jetzt gelobte er, keinem Menschen ein Wörtchen davon zu sagen.

Jede Woche stieg er noch einmal hinauf zu den Tischen, bis der Herbstwind über die Weiden strich und das Vieh von der Alp getrie­ben wurde. Die Gräfin sah er nie mehr, und doch hat er sie nicht vergessen können. Er ist ein Sonderling geworden und einer geblie­ben sein Leben lang, hat seine Kameraden gemieden, sich stets ein­sam auf der Alp herumgetrieben und nach etwas gesucht, kein Mensch wusste wonach, und dann ist er früh gestorben.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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