Riborrey und seine Tochter

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Die Alp Arpitetta liegt im hintersten Teil des Eivischtales und schaut auf die mächtige Zunge des Durandgletschers hinunter. Wenn von der silberblinkenden Pyramide des Weisshorns die Lawinen nie­derdonnern, rollt das Echo über die Alp weg, so dass die Kühe oft erschreckt die Köpfe heben und unruhig in der Luft herum­schnuppern.

Früher war das anders. Im Winter hatten nur die Zacken und Hörner Eismäntel umgeworfen; das Klima war viel milder, Lawinen gab es nicht einmal im Winter, und Riborrey, der mit sechs Knechten und seiner halbwüchsigen Tochter die Alp bewirtschaftete, sah nie Eis bei seinem Brunnen. Vor der Hütte lag ein Gärtchen mit saftigen Gemüsen, mit Levkojen, Primeln und Nelken, und an der Laube rankte sich die Weinrebe empor. Die Ernten fielen immer so reichlich aus, dass die Scheunen bis unter das Dach gefüllt wurden. Auf der Weide glockte die Herde, die so zahlreich war, dass Riborrey nie genau wusste, wie viele Tiere er eigentlich besass. Seine Tochter ver­kehrte mit niemand, als mit dem alten Müller, dem sie jeden Herbst den Roggen zur Mühle fuhr, und mit dem Besitzer der gegenüber­liegenden Leealp, wo sie ihr Brot backen liess.

Riborrey ging selten zum Gottesdienst in die Talkirche, sondern opferte auf dem Kuhfelsen. Einst erschien er zur Verwunderung aller Anniviarden in der Kirche. Als er hereintrat, fiel ein Sonnen­strahl durchs Fenster; er hing den Hut an dem hellen Streifen auf und setzte sich ins Bänklein. Während der Messe lachte er immer. Da nahm ihn der Pfarrer nach dem Gottesdienst ins Verhör und fragte ihn, warum er immer gelacht habe. Riborrey erwiderte, er habe den Teufel auf dem Fenstersims sitzen sehen; der hätte mit aller Macht an einer Kuhhaut gezerrt und sie mit den Zähnen aus­einander zu reissen versucht. Da sei die Haut zerrissen, der Teufel habe den Kopf an der Mauer angeschlagen, und da habe er halt lachen müssen. Der Pfarrer sah nun, dass Riborrey mehr wusste als er selbst und sagte, er brauche nicht mehr zur Messe zu kommen.

So blieb Riborrey auf seiner Alp und verkehrte nicht einmal mehr mit den Talleuten. Die Jahre schwanden im Fluge dahin, er war alt geworden und seine Tochter eine schöne Jungfrau. Aber sie dachte nicht ans Heiraten, hing an ihrem Vater und besorgte mit den Knech­ten die Herde. Sie merkte wohl, wie das Klima rauher wurde, wie die Schneefelder immer näher rückten und der Gletscher langsam ins Tal vorstiess; sie sah auch, wie der Vater ab und zu ängstlich zu den weissen Felswänden emporblickte, wo der Schnee auch im Sommer hängen blieb und nicht mehr zerging.

Eines Abends trat er früher als sonst in die Stube, zog die Tochter an sich und sagte: «Sieh, liebes Kind, die Jahre vergehen, die Zeiten ändern sich, am Fuss des Moncerna liegt eine Schneelast, die die Sonne des Sommers nicht mehr zu schmelzen vermochte; das ist ein Zeichen, dass wir fortziehen müssen; ich habe mich lange gewehrt, denn auf der Alp habe ich mein Leben zugebracht und ich verlasse sie nur ungern, aber es muss sein!» Einige Wochen später war das Wasser im Brunnen gefroren, und das war das Zeichen zur Abreise. Riborrey schenkte die Alp dem Landesherrn, verkaufte die Herde und zog mit all seiner Habe und den grossen Reichtümern ins Rhonetal hinunter.

Allein, Riborrey sollte es bald bereuen, sich an der Rhone nieder­gelassen zu haben. Dort herrschten ganz andere Sitten und Gebräuche als oben im einsamen Alptal. Die Tochter brauchte keine Wolle mehr zu spinnen und keine Herde mehr zu hüten; die Zeit wurde ihr lang, und da fing sie an zu träumen und verliebte sich in einen jungen, hübschen Burschen, der ihr nachging. Der Vater sah eine Weile zu, dann sagte er zu der Tochter: «Sieh, die Zeit ist gekommen, wo du dir einen Bräutigam erwählen darfst. Die jungen Burschen hier unten gefallen mir aber nicht, und du sollst nie einem andern dein Herz schenken, als einem Anniviarden!» Die Tochter war gewillt, dem Vater zu gehorchen und die Werbungen der Männer aus dem Rhone­tale auszuschlagen. Wochen und Monate flossen dahin. Sie wartete auf den Anniviarden, der kommen sollte, aber kein einziger meldete sich. Da gehorchte sie nicht mehr der Stimme ihres Vaters, sondern der ihres Herzens und ging wieder mit dem jungen, hübschen Bur­schen, der ihr so wohl gefiel. Der Vater merkte es und runzelte die Stirne. Eines Abends schloss er das Haus mit dem Schlüssel ab und steckte ihn in die Tasche. Damit glaubte er die beiden Liebenden von­einander trennen zu können, aber weit gefehlt. Als Riborreys Tochter Brot backte, machte sie zwei Abdrücke von dem Hausschlüsseln in den Teig, die sie ihrem Geliebten heimlich zuzustecken wusste. Dieser trug die Abdrücke zum Schlosser und liess zwei neue Schlüssel an­fertigen. So konnte sie des Abends heimlich das Haus verlassen und mit dem Geliebten spazieren gehen. Aber es ging nicht lange, so ent­deckte der Vater den Betrug. Der Zorn flammte in ihm auf, so dass er seine Tochter verfluchte und wünschte, sie möchte für ihren Un­gehorsam in ein hässliches Ungeheuer verwandelt werden.

Kaum war der Fluch gesprochen, so ging er auch in Erfüllung; die schöne Tochter tat einen Schrei und schrumpfte zu einer Schlange zusammen, Als der Vater sah, was er im Zorn angerichtet hatte, be­reute er seinen Fluch und rang die Hände, aber die Verwünschung konnte er nicht mehr zurücknehmen. Er fühlte sich ganz vereinsamt und vermisste jeden Tag von neuem sein geliebtes Kind, und als er sehen musste, wie sie als hässiiche Schlange das Haus umkreiste, legte er sich mit gebrochenem Herzen hin und starb vor Gram.

Die Schlange hütete sorgsam die Schätze, die ihr der Vater zurück­gelassen hatte, und eines Tages offenbarte sie sich ihrem Geliebten und bat ihn, sie zu erlösen. In der Christnacht werde sie ihm zur Mitternachtsstunde erscheinen, das erstemal als Schlange, dann als Kröte und zuletzt als Drache. Wenn er sie in jeder Gestalt dreimal auf den Mund küsse, so werde sie erlöst und wieder in eine blühende Jungfrau verwandelt. Dann wolle sie ihn belohnen, ihm die Hand reichen und die Schätze ihres Vaters mit ihm teilen. Der Geliebte schauerte zusammen, erinnerte sich aber, was sie ihm als liebliche Jungfrau gewesen, und so erschien er in der Christnacht an der bezeichneten Stelle. Er brauchte nicht lange auf die arme Freundin zu warten. Als es Mitternacht schlug, kroch die Schlange herbei, schlang sich um seinen Leib und flüsterte ihm zu: «Küsse mich, küsse mich!» Er schloss die Augen, überwand den Ekel und küsste sie dreimal. Als er die Augen öffnete, war die Schlange ver­schwunden, und eine grosse Kröte hüpfte auf seinen Schoss, glotzte ihn mit feuchten, hervorquellenden Augen an und quakte: «Küsse mich, küsse mich!» Der Bursche wurde vor Ekel totenbleich; er schloss wiederum die Augen, krampfte die Hände zusammen und küsste die hässliche Kröte dreimal auf das breite, schlammige Maul. Nun flammte es hell auf, ein schrecklicher, feuerspeiender Drache fuhr zischend durch die Luft, schoss auf ihn los und schnob : «Küsse mich, küsse mich», und jedesmal sprühten die Feuergarben aus seinem Maul und zu den Nüstern heraus. Der Bursche zitterte am ganzen Leib vor Schrecken und floh, so schnell er konnte. Hinter ihm Seufzer und eine Stimme, die schluchzte: «Niemals, niemals sollst du glücklich sein!»

Die Stimme hatte recht; der Jüngling ist bald darauf im Elend gestorben, und die unglückliche Tochter des Riborrey harrt bis zur heutigen Stunde ihrer Erlösung.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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