Die böse Spinne

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Die böse Spinne

Vor etlichen hundert Jahren lag an der Kempt, nahe beim Weiler Grafstall, ein einsames Wirtshaus. Das Gebäude sah mit seinen altersgrauen Mauern, dem zerfallenen Dache und den engen Fensteröffnungen wenig einladend aus, und es kam nur selten vor, dass ein Wanderer durch den dichten Wald den Weg dazu fand; noch seltener aber sah man einen solchen wieder aus der Herberge treten; wundersame, schauerliche Sagen gingen in der Umgegend über die böse Spinne von Mund zu Munde. Das Haus führte nämlich dieses wenig beliebte Tier im Schilde, das in einem riesigen Gewebe von Eisendraht über dem Eingang schwebte und mit roten, fast glühenden Augen an dem pechschwarzen Leibe die Gäste anglotzte.

Da trat einst spät abends, als ein heftiges Gewitter am Himmel drohte und der Sturm bereits die alten Eichen erschütterte, ein rüstiger Wandersmann, schwer mit Gepäck beladen, in das alte Haus, Schutz vor dem Unwetter und ein gutes Nachtlager begehrend. Der Mann war fremd; die zunehmende Dämmerung verhüllte ihm das Unheimliche des Ortes. Wenn er auch den üblen Ruf seiner Herberge gekannt hätte, wäre er kaum vorbei gegangen; denn er trug das Herz auf dem rechten Fleck und war müde und traurig.

Das gute Essen schmeckte ihm daher gar wohl; doch wollten ihm die geschwätzige  Wirtin und ihr wortkarger, mürrische Mann wenig behagen, und es entging ihm nicht, wie die beiden heimlich Blicke und Worte wechselten und wie der Wirt einen argen Fluch nicht unterdrücken konnte, als er den ihm angepriesenen Nachttrunk verweigerte. Auch stand das Zimmer, das ihm nun zur Ruhe angewiesen wurde, mit der sonstigen Armseligkeit des Hauses in zu grossem Gegensatz, dass es ihm nicht hätte auffallen sollen. Nicht nur mochte es das einzige im Haus sein, das durch ein hohes, helles Fenster der freien Luft Zugang liess; auch die ganze Ausschmückung gehörte eher einem alten, reiche Edelhause als dieser verfallenden Herberge an; namentlich machte das grosse Bett mit seinen schweren, seidenen Vorhängen und dem mit Federn und Troddeln geschmückten Himmel einen seltsamen Eindruck auf ihn, so das er beschloss, sich nicht zu entkleiden und womöglich wach zu bleiben, um jedem Angriff schlagfertig zu begegnen. Nach kurzem Gebete warf er sich auf das Lager; aber eine unerklärliche Unruhe verfolgte ihn, und rasch sprang er auf, als er ein unheimliches Knistern in den Vorhängen vernahm. Ein Todesschreck ergriff ihn, als blitzesschnell, aber mit der lautlosen Sicherheit, womit die Spinne ihr Opfer umstrickt, der schwere Betthimmel sich auf die Stelle senkte, die er vor einem Augenblick noch eigenommen. Wie mancher arglose Schläfer hatte wohl schon unter dieser Wucht den letzten Seufzer getan; denn die ganze Kraft unseres Wanderers reichte nicht hin, die ungeheure Last nur zu bewegen; doch ihm blieb, das sah er wohl ein, keine Zeit zu Betrachtungen, und rasch das Fenster öffnend erspähte er eine Gelegenheit zur Rettung. Glücklicherweise streckte ein alter Birnbaum seine starken Äste bis nahe an des Fenster, und es gelang ihm in kühnem Sprunge, einen derselben zu erreichen. Kaum fühlte er den sichern Boden unter seinen Füssen, als er durch Busch und Wald unaufhaltsam vorwärtsdrang und sich nicht eher Ruhe gönnte, bis er an den Saum des Waldes gelangte. Das Gewitter hatte sich verzogen, die Nacht war mild und erquickend, und das süsse Gefühl des geretteten Daseins und heisser Dank gegen Gott, der ihn so augenscheinlich beschützt hatte, hoben seine Brust. Die aufgehende Sonne fand ihn vor den Toren Zürichs, wo er sogleich Anzeige vom Geschehenen machte. Ein starker bewaffneter Haufe wurde alsbald ausgeschickt, das Raubnest zu zerstören und die arglistigen Wirtsleute gefangen zu nehmen. Im Keller fanden sich die mannigfachsten, im Laufe der Zeit geraubten Gegenstände; man stiess aber auch auf die verscharrten Leichen ihrer Besitzer. Das Haus wurde dem Boden gleichgemacht, allein die Erinnerung an die Untaten lebte im Volke fort und die Geschichte von der bösen Spinne verkürzte bis in die neueste Zeit hinein den Spinnerinnen der Umgebung manchen langen Winterabend.

Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Wörtlich aus Stauber, S. 65; Meyer v. K., S. 13: bei Peterhans, Ins Zürcher Oberland, heisst das Wirtshaus „Die goldenen Spinne“. HwbdA.7, 265 - 282 s. v. Spinne (Riegler)

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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