Das Hexenbüchlein

Land: Schweiz
Region: Zürich Oberland
Kategorie: Sage

Das Hexenbüchlein

Einst, als die Scheidegg, eine schön gelegene Alp, in deren Nähe die Töss entspringt, noch dem Kloster Rüti gehörte, fiel zu ungewöhnlich früher Zeit ein gewaltiger Schnee.

Weil nun des Klosters Schafhirte, der auf der Alp dreihundert Schafe sömmerte, nicht zurückkehrte, machten sich die Leute, die Schlimmes ahnten, auf, um nach ihm auszusehen. Sie fanden auch bald auf der Weid erst die erfrorenen Schafe und in der Alphütte den noch lebenden, abgemagerten Hund. Vom Hirten aber konnten sie keine Spur entdecken.

Lange suchten sie nach ihm und entdeckten ihn endlich erfroren in einer grausigen Schlucht. So trugen sie ihn denn in seine Alphütte, und drei Männer blieben bei ihm als Totenwache zurück. Einer der Wächter nun, ein junger Mann, der Vinzenzenbub genannt, sah auf einem Gestell in der Hüttenstube ein Büchlein liegen. Er nahms neugierig zuhanden und erkannte bald, dass er ein Hexenbüchlein gefunden hatte. Das war ihm hochwillkommen, denn schon oft hatte er gehört, dass in solchen Büchern vielerlei Zaubermittel für alles Mögliche und Unmögliche angegeben seien. Und da er ein Erzwilderer war und hinterrücks der Obrigkeit schon manches feiste Wildböcklein abgeschossen und nächtlicherweise heimgeschleift hatte, dachte er, vielleicht liesse sich in dem Büchlein auch ein gutes Mittel für unfehlbare Schüsse finden.

Kaum waren seine zwei Gespanen eingeschlafen, steckte er das Büchlein ins Wams und vermochte vor Ungeduld kaum den Morgen zu erwarten. Als es dann endlich tagte, half er den zwei andern mit grosser Mühsal die Leiche zu Tal schaffen. Kaum aber ruhte sie in der kühlen Erde, verzog er sich heim in sein schön gelegenes Dörflein Oberholz ob Wald, wo er mit seinem Knäblein ein unscheinbares Häuschen bewohnte.

Da setzte er sich in seine Kammer und las das Hexenbüchlein schier andächtig durch. Und nach langem fand er auch richtig eine Anweisung über das Giessen von immer treffenden Kugeln. Diese besagte, dass man das Blei genau zur zwölften Nachtstunde im Schädel eines Selbstmörders giessen müsse, und dass der Schütze mit also hergestellten Kugeln bestimmt treffe, auf was immer er anschlage. Doch dürfe er nur ja einmal ansetzen, denn wenn er den Schuss nicht sofort abgebe, sondern noch ein zweites Mal ansetze und ziele, treffe die Kugel das, was ihm das Liebste auf der Welt sei.

Hocherfreut steckte er das Hexenbüchlein wieder zu sich. Aber in einer der folgenden Nächte machte er sich in ein Tobel, in dem er den Schädel eines Selbstmörders wusste. Und als es nun von fernher Zwölfe schlug, goss er beim Scheine des Vollmondes in der gespenstigen Schlucht zwölf Kugeln. Dann packte ihn das Grauen. Schleunigst begab er sich wieder in sein Dörflein zurück.

Aber in. der folgenden Nacht brach er auf und schlich sich, die zwölf Kugeln im Wams, aus seinem friedlich schlummernden Dörflein Oberholz fort. Abseits von allen Häusern machte er sich durchs liebliche Goldingertal, dem jetzt der Vollmond ein wunderlich fremdes Aussehen gab. Oft schreckte er auf, denn er meinte, es laufe etwas neben ihm her, aber es war immer nur sein Schatten.

Endlich gelangte er an die Kreuzegg, wo er sich auf den Anstand stellte. Aber lange wollte sich nichts zeigen. Nicht nur die Menschen, auch das Wild schien bis auf das letzte nachtwandelnde Igelchen eingeschlafen. Schon wollte er missmutig werden, da kam über die mondhelle Weid von der Kreuzegg herab ein prächtiger Rehbock. Flugs setzte er die Flinte an und zielte.

Da war irgendwo im Gebüsch ein Rascheln. Einen Augenblick nur hielt er lauschend inne. Dann setzte er wieder an, zielte, und donnernd ging der Schuss durch Berg und Tal. Aber unter dem Dröhnen des Schusses hatte er einen fürchterlichen Aufschrei gehört, der ihm bis ins innerste Herz hineinging, Und als er nun aufsprang, sah er gerade noch, wie der stattliche Rehbock über die Weiden davonstürmte. Zitternd schaute er ihm nach.

Dann aber ging er mit unsicheren Schritten ins nahe Gestäude, aus dem, wie ihn gedünkt hatte, der unerklärliche, angstvolle Schrei gekommen war. Und wie er nun die Zweige eines wilden Holunderstrauches auseinanderdrängte, sprang ihn, wie ein Luchs, das Entsetzen an und zerfleischte ihm das Herz. Vor ihm im Farnkraut lag sein eigenes Büblein und starrte ihn vorwurfsvoll mit brechenden Augen an.

Er warf sich zu ihm nieder, riss ihm das Gewand auf, und nun sah er, dass es eine Kugel mitten ins Herz getroffen hatte. Und jetzt schloss es seine Augen für immer.

Aufheulend, kreischend‚ brüllend vor Verzweiflung stürzte er sich über sein Knäblein. Aber was er auch tat, und wie er auch tat, es ward immer bleicher, und der Vollmond breitete seine zitternden weissen Schleier über ein reines Kinderangesicht aus.

Als es Tag werden wollte, nahm der Jagdfrevler den toten Knaben und trug ihn zu einer grossen Buche, unter der er ihn begrub. Darnach kam die Verzweiflung völlig über ihn wie hundert Geier. Und sie schleppte und schleifte ihn fort in alle Welt hinaus. Nie hat man von ihm jemals wieder gehört.

Lange Zeit nachher kam einmal ein Holzhacker in jene Gegend, wo der Schuss gefallen war. Da fand er an der Stelle, in der das tote Knäblein begraben lag, eine grosse, rote Distel. Er versuchte, sie auszureissen. Aber wie er auch zog und zerrte, er brachte sie nicht heraus. Es war, als hielte sie sich mit tausend Wurzeln bis in die Hölle hinunter fest. Und als er nun die dabeistehende Buche fällen wollte, sprang die Axt immer wieder wie von einem Stein zurück.

Das alles verbreitete sich in der Gegend. Man nannte die unheimliche Buche die Blutbuche, und niemand getraute sich mehr in ihre Nähe.

Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Wörtlich aus Lienert, S. 103. Scheidegg ist eine Alp der Gemeinde Wald, 1247 m ü. M. Lüssi, F., S. 161, berichtet, dass man früher auch glaubte. man könne Flinten treffsicher machen, indem man eine Blindschleiche durch den Lauf ziehe. Dem Fischenthaler Chronisten Lüssi erklärte um 1930 der damals 81-jährige H. Spörri, über Aberglauben wisse er nicht viel, man habe wohl etwa gesagt, diese oder jene sei eine Hexe. — In den Gchr. findet man zauberische Jagdhilfen nicht selten aufgeführt. — Hexenbüchlein waren früher ziemlich verbreitet. Da aber alles, was Hexerei anbetraf, verboten war und verfolgt wurde, gab man den Weisungen, wie man Übernatürliches bewerkstelligen könne, keine so verdächtigen Namen, sondern nannte sie etwa „Rezept“- oder „Brauchbüchlein“, „Geistlicher Schild“, „Albertus Magnus Egyptische Geheimnisse“, „Sechstes und siebentes Buch Mosis“. Die Bibliothek der Antiqu. Ges. Hinwil verwahrt in der volkskundl. Abt. ein handgeschriebenes Büchlein, das die Kantonspolizei einem verhafteten Verbrecher abgenommen. In den vielen Rezepten findet sich auch eines, das angibt, wie man sich durch gewissen Zauber einer Verhaftung entziehen könne.

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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