Die Gräfin am Schwarzsee

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In alter Zeit führte eine Strasse von Mailand nach Brig, dann über den Beichtgrat ins Lötschental, und von hier über den Lötschenpass, wo noch Pflasterungen zu sehen sind, nach Kandersteg. Die grossen Gletscherfelder von Aletsch und Lötschen waren schöne Alpen und gehörten einer jungen Gräfin, die in einem stolzen Schlosse am Schwarzsee wohnte und mehr Gold, Edelsteine und Juwelen besass, als der reichste Fürst im Niederlande draussen. Die biitzblanken Fenster des marmomen Schlosses spiegelten sich in den Fluten des Sees, und wenn der Bergwind die Oberfläche kräuselte, bespülten die Wellen die schneeweissen Söller und die Gräfin hörte in ihren Gemächern das leise Anrauschen des Wassers. Hinter dem Schlosse dehnten sich Gärten mit Blumen, Büschen und Sträuchern, aus denen die herrlichsten Düfte stiegen.

Auf der Passtrasse verkehrten Leute aller Stände, Händler, Reisende, Säumer und vornehme Ritter mit ihrem Gefolge. Die junge Gräfin hatte Rehaugen, Wangen so rot wie Alprosenblüten und lange braune Haare, die im Nacken in einen dicken Knoten geschürzt waren. Mancher vornehme Herr hatte schon um ihre Hand angehalen, aber ohne Erfolg. Sie zeigte keine Lust zu heiraten und schlug alle Bewerbungen in den Wind. Um Ruhe zu bekommen vor den Freiern, liess sie alle Türen zum Schloss bewachen und verlangte von jedem Freier, dass er eine von den Nelken pflücke, die vor ihrem Fenster gross wie Rosen und in allen Farben blühten. Viele brave Edelleute versuchten in ihrem Wagemut die Mauer zu erklimmen und zu den Nelkenstöcken zu gelangen, aber alle glitschten an den glatten Quadern aus und fielen hinunter in den See, der keinen wiedergab.

Einst kehrte in dem Wirtshause neben dem Schlosse auch ein Venediker, d. h. ein Edelmann aus Venedig, mit seinem Sohne ein. Der Sohn war gross und stark, lauter Kraft und Kühnheit, und ihm gefiel das Schlossfräulein so gut, als er sie am Fenster erblickte, dass er beschloss, um sie zu werben. Der Türhüter teilte ihm die Bedingung mit, die zu erfüllen war, aber die reizte ihn nur noch mehr. Er hätte sich durch nichts abschrecken lassen, denn der Preis, der ihm winkte, war zu verlockend.

Der Vater, der von dem gefährlichen Vorhaben seines Sohnes nichts wusste, setzte in den nächsten Tagen seine Reise fort, und da beschloss der Jüngling, unverzüglich ans Werk zu gehen. Einen ganzen Tag lang übte er sich im Steigen und Klettern an den senkrechten Felsen und Türmen der Umgebung, dann suchte er an der Fassade des Palastes die Stelle auf, wo er am leichtesten hinaufzukommen hoffte. Mit Schwung und Sprung und sicheren Griffen arbeitete er sich aufwärts, und das Glück schien ihn zu begünstigen. Er schaute nicht zurück, sondern immer nach seinen Händen, die fest zugriffen und den Nelkensträussen immer näher rückten. Schon hatte er zwei Stockwerke erklettert, und nur noch eine kleine Spanne trennte ihn von den Blumen, die verlockend über seinem Haupte hingen und sich im Winde wiegten. Er schmiegte sich fest an die glatte Mauer, schöpfte von neuem Luft, hielt den Atem an und schwang sich mit einem kräftigen Ruck hinauf. Seine Hand erwischte eine blutrote Nelke, und nun sah er die Geliebte im weisseidenen Kleide hinter den Stöcken. In ihren Haaren schimmerte köstliches Geschmeide, und ihre Augen funkelten wie zwei Sterne am Himmel. Da ergriff ihn ein Schwindel, er zitterte am ganzen Leibe, die Finger liessen los, und er stürzte hinab. Das Wasser klatschte und spritzte bis zum Dach hinauf, dann verschlang ihn die Flut.

Als der Vater zurückkehrte und das Unglück vernahm, stiess er einen schrecklichen Fluch aus. Ein Wirbelsturm fegte von den Bergen her, Steinlawinen prasselten unter furchtbarem Krachen und Tosen hernieder, verschütteten das Schloss, der See wütete, und die Wasser gingen berghoch und verschlangen alle die kostbaren Schätze. Die schönen Blumengärten wurden in Steinhalden verwandelt, die Alpen mit Gletscherfeldern überzogen, und das Silber- und Goldgerät der Gräfin löste sich auf im Wasser und färbte den Grund des Sees schwarz. Diese Farbe hat ihm den Namen gegeben.

Nach Jahren sahen die Hirten und Sennen, die ihre Herden an den Schwarzsee hinauftrieben, eine weisse Schlange am Ufer herumkriechen, mit einer goldenen Krone auf dem Kopf, in der eine blutrote Nelke steckte. Viele Jahre später wagte es ein Bursche, nach der seltenen Schlange Jagd zu machen. Da hielt sie still und sagte: «Ich bin die verwünschte Gräfin, die so viele Edelleute zu Grunde gerichtet hat; meine Untaten muss ich im Schwarzsee abbüssen und darf nur alle zehn Jahre einmal zum Vorschein kommen. Erlösen wird mich nur ein Edelmann, der mich dreimal auf den Mund küsst!» Nach diesen Worten verschwand sie im Wasser des Sees. Die Strasse über den Beichtgrat ist seitdem verödet und von Schnee und Eis langsam überzogen worden. Es ziehen keine Edelleute mehr diesen Weg, und die weisse Schlange wartet noch heute auf ihre Erlösungsstunde.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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