Der Betteltag

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es gab eine Zeit, da die Schlangen im Turtmännertal so selten waren, wie die weissen Mäuse. Man zählte vierzehn Alpen im Umkreis und eben so viele Herden, die bis übers Knie im reichen, kräftigen Futter grasten. Eine Rasse, die von sich reden machte.

Ein Bettelmann ging einst von Alp zu Alp und bat um eine Spende. «Wir geben keine Almosen», ward ihm an allen Orten der schnöde Bescheid, und bei dem hintersten Stafel am Gletscher brach er vor Hunger und Erschöpfung zusammen. «Reicht mir zu essen und zu trinken!» flehte er inbrünstig zu den Sennen.

«Gibt man dir, so kommen morgen ihrer vier, und übermorgen rappelt's hier. Weg, scher dich!»

Auf einem Felshöcker hielt der Bettler an und rief: «Rappeln, jawohl von Schlangen rappeln soll es hier, dass ihr die Alpen auch verlassen müsst, ihr Racker und Geizteufel!»

Während die Flühe das Echo rollten, zog er ein kleines Instrument aus der Tasche, blies eine seltsame Weise, und aus den Eislöchern und Felsnestern tänzelte das Viperngezüchte und kroch in die Pferche und Gelasse. Lockend und pfeifend schritt er von Alp zu Alp, und es raschelte und schlängelte um seine Füsse und schlüpfte hierhin und dorthin in die Ställe und Sennhütten. Der Bettelmann verschwand, die Schlangen blieben zurück und vermehrten sich, dem Vieh und Älplervolk zum Schaden und Nachteil. Man ging zu den Kapuzinern und Eremiten und holte Pulver und gute Räte, die nicht anschlugen. Man musste die Alpen räumen zu einer Zeit, als das Gras noch hoch und üppig in Saft und Blüte und büscheldicht auf den Weiden sprosste.

Die Alpgenossen tagten im Gemeindehaus, und man liess einen Hexenmeister kommen, der sich anheischig machte, das Tal zu säubern. Als Lohn bedang er sich ein Gewand zum voraus. Von der einen Älplergemeinde erhielt er die Hosen, von der andern die Schuhe, von der dritten Hut und Weste, von der vierten den Kittel. Die übrigen steuerten ein schönes Trinkgeld zusammen, und der Alpenvogt trat vor ihn hin und sagte, das kriege er obendrauf, wenn das Werk vollendet sei. Von einigen Männern begleitet, stieg der Schlangenbändiger zuversichtlich ins Tal empor. «Habt ihr je eine weisse Schlange bemerkt?» fragte er beim ersten Stafel.

«Vipern und Ottern im Oberfluss, eine weisse Schlange jedoch, nein, davon haben wir nie etwas gehört.»

«Doch, doch», verbesserte der Alpenvogt, «auf der Tschafelalp ist gar oft eine weisse Schlange erschienen, die eine goldene Krone auf dem Haupte trug. Die Kinder spielten mit ihr und gaben ihr Milch zu laffen. Das Krönlein streifte sie ab und nahm es wieder mit. Da hat der Alpknecht sich auf die Lauer gestellt, und in dem Augenblick, wo sie mit den Kindern sich entfernte, den Schmuck heimlich in die Tasche geschoben. Zwei Tage lang hat das Tier schrecklich getobt und gewütet und ist dann spurlos verschwunden»

Der Schlangenbeschwörer hemmte zaudernd den Schritt und machte Miene, umzukehren.

«Was da», riefen die andern, «eines Histörchens wegen, das uns niemand verbürgen kann, wird man nicht klein und feige! Die weisse Schlange ist tot und der Alpknecht - was wissen wir, wir haben ihn nicht gekannt.»

«Also denn, so schichtet dürres Holz und legt Feuer an!»

Als die Flammen knisterten, bestieg der Zauberer einen Baumstrunk, zog ein Büchlein aus der Tasche, las die fremden Sprüche und lockte mit Zeichen und sonderbaren Handbewegungen das Schlangengetier aus seinen Schlupflöchern und Zufluchtsorten. Hui, wie es von den Weiden, dem Gewurzel und den Stallböden herwimmelte in allen Grössen und Farben, armsdick und dünn, blau, grau, braun und grün und hoch im Bogen sich in das Feuer ringelte und zuckend verendete! Als das Feuer in die Asche sank, lachte der Zauberer und rühmte, er habe sein Werk vollbracht. Kaum gesagt, pfiff und zischte es durch die Luft. «Die weisse Schlange», schrie er in blassem Entsetzen, «helft mir, helft! Ich - ich war der Alpknecht - ich habe ihr die Krone» - in Todesängsten riss er die Jacke vom Leibe, warf sie der Schlange in den Rachen und rannte an den Bach zu der Brücke. Rasch hatte das weisse Untier sich befreit, schoss dem Opfer nach, und zu mitten des Steges erhaschte es seine Beine und zog ihn mit sich ins tobende Wasser, das keinen mehr herausgibt.

Kaum war ein Jahr abgelaufen, so hiess es allenthalben, die Schlangen seien wieder da und trieben ihr Unwesen. Der Zauberer habe nur halbe Arbeit verrichtet. Sie krochen unter die Kühe, in die Strohsäcke, auf den Wegen herum, es war nicht mehr auszuhalten im Turtmännertal.

Wie es so geht in solchen Dingen, man forschte nach der Ursache des Übels, und ein alter Senn erzählte von einem Fechtbruder, der weiland durchs Tal wanderte und, vor allen Türen abgewiesen, Gottes Zorn und Gericht über die hartherzigen Älpler heraufbeschworen habe. Man sollte mal das Gegenteil versuchen und einen Tag bestimmen, von dem die Armen den Alpnutzen erhielten. Die Mehrheit unterstützte den Vorschlag, und man bezeichnete den 15. August als Betteltag im Kalender. Im nächsten Frühjahr, als man zum Gemeindewerk ins Turtmännertal empor schritt, fanden sie auf der ganzen Strecke tote Schlangen im Weg. Es galt, Mut zu fassen und den Beschluss getreulich zur Tat werden zu lassen.

Mit Hallo und Hoiho, wie lange nicht mehr, trieben die Bergler ihre Herden ins saftige Futter hinauf. Noch traf man hier und dort ein Schlängelein, das mühsam sich fortbewegte und mit Anstrengung den stampfenden Hufen und Fusstritten entfloh.

Als am 15' August zum erstenmal fette Käse und Ziegerballen an die Armen verteilt wurden, war es zu Ende mit der Plage, und seitdem ist das Tal schlangenfrei. Jahr um Jahr ziehen Mitte August die Bettler in Scharen zur freundlichen Bewirtung ins Turmännertal, reich beschert und hochbeladen wieder bergab. Es geht tief in die Nacht, bis der Letzte die Spende nach Hause getragen hat.

 

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

Diese Website nutzt Cookies und andere Technologien, um unser Angebot für Sie laufend zu verbessern und unsere Inhalte auf Ihre Bedürfnisse abzustimmen. Sie können jederzeit einstellen, welche Cookies Sie zulassen wollen. Durch das Schliessen dieser Anzeige werden Cookies aktiviert. Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Cookie Einstellungen

Diese Cookies benötigen wir zwingend, damit die Seite korrekt funktioniert.

Diese Cookies  erhöhen das Nutzererlebnis. Beispielsweise indem getätige Spracheinstellungen gespeichert werden. Wenn Sie diese Cookies nicht zulassen, funktionieren einige dieser Dienste möglicherweise nicht einwandfrei.

Diese Webseite bietet möglicherweise Inhalte oder Funktionalitäten an, die von Drittanbietern eigenverantwortlich zur Verfügung gestellt werden. Diese Drittanbieter können eigene Cookies setzen, z.B. um die Nutzeraktivität zu verfolgen oder ihre Angebote zu personalisieren und zu optimieren.
Das können unter Anderem folgende Cookies sein:
_ga (Google Analytics)
_ga_JW67SKFLRG (Google Analytics)
NID (Google Maps)