Der Venediger

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

»Friähner syget deerä Venediger im Land ummäzogä; das syget aber fyni, kännbari (kundige) Mandli g'sy!«

a) Zu dem Senn auf der Alp Chammli im Schächental gesellte sich einst ein kleines, unbekanntes Mandli und fragte, ob es während des Sommers bei ihm bleiben und bei ihm essen und schlafen könne. Es werde alles gehörig bezahlen und mit der gewöhnlichen Alpkost zufrieden sein. Der Senn war einverstanden. Jeden Tag ging der Gast hinaus in die Stöcke und Felsen und brachte am Abend eine Menge der verschiedensten Steine mit sich, die er sorgfältig aufbewahrte. Eines Tages traf er den Zuhirt an, der das Vieh hütete, und sah gerade, wie dieser einen Stein ergriff und nach einer Kuh schleuderte. Fest fasste der Fremdling das Wurfgeschoss ins Auge, und, als der Stein zu Boden fiel, stieg er ihm nach, zeigte ihn dem Älpler und fragte: »Glaubt ihr, dass dieses unscheinbare Steinchen mehr wert ist, als die schöne ›Trychelchüeh‹, welcher der Wurf gegolten hat?« »Ach was!« brummte der Kuhhirt, »solche Steine finde ich genug.« »Wohl kaum,« erwiderte ernst der Steinsammler. Nach und nach trat die Versuchung an den Senn heran, und er stahl von den kostbaren Steinchen ein Habersäcklein voll, die Gewissensbisse mit dem Gedanken beschwichtigend, der Fremde werde es kaum merken und genug andere finden. Der Betrogene machte am Abend keine Miene, als ob er etwas von seinem Verluste bemerken würde.

Es nahte der Herbst. Der Venediger bezahlte, und zwar gut, und nahm Abschied von den Älplern. Der Senn fragte ihn nach dem Ziele seiner Reise und vernahm, dass zu Venedig seine Heimat sei. Als die schöne Alpzeit vorüber war, nahm auch der Senn seinen Habersack mit den entwendeten Steinen auf den Rücken und den Weg unter die Füsse und wanderte dem fernen Venedig zu. Die Reise war lang, und es wurde dem unerfahrenen Urner bang, er möchte mit seinem Schatz einen schlechten Profit machen. Doch endlich erreichte er die Stadt im Meere. Verlegen wanderte er in der Stadt umher. Da rief ihn auf einmal aus einem schönen Haus ein kleiner Mann freundlich an und lud ihn ein, bei ihm einzukehren. Der Urner erkannte ihn auf den ersten Blick und fuhr erschrocken zusammen. Es war sein Sommergast! Er wollte sich aus dem Staube machen. Doch der Venediger drang in ihn: »Ich weiss schon, was euch drückt,« meinte er gütig, »aber deswegen soll euch nichts geschehen. Kommt, ich werde euch in dieser Stadt von grossem Nutzen sein können.« Endlich nahm der misstrauische Sohn der Berge das Anerbieten an und betrat das gastliche Haus, wo er mit aller Zuvorkommenheit und Liebe aufgenommen wurde. »Gehet jetzt,« sagte der stadtkundige Mann zu seinem unbeholfenen Gast, »mit euern Steinen noch soviele Häuser weiter, dann werdet ihr ein Gebäude finden, über dessen Stiegen Lehnen von lauterm Golde hinaufführen. Dort kehret ein, zeiget euere Steine und saget, sie sollen euch den Wert dafür geben!« Richtig, der Senn findet den Palast. Man füllt ihm daselbst seinen Habersack mit funkelnden Goldstücken und entlässt ihn. Aber sein Lehrmeister schickt ihn nochmals zurück: »Saget ihnen, ihr habet den Wert noch nicht; sie sollen euch den gehörigen Preis auszahlen, sonst werde ein Anderer kommen und mit ihnen sprechen.« Zum zweiten Male wurde ihm der Habersack mit Gold gefüllt. Als er ihn seinem Gastgeber zeigte, meinte dieser: »Es ist zwar immer noch nicht der volle Wert, allein wir wollen jetzt zufrieden sein; für euer Leben habt ihr ja genug; kommt jetzt mit mir und nehmet euern Habersack mit!« Sie stiegen nun miteinander in einen tiefen Keller hinunter. Dem Senn wurde angst, und beklommen schaute er den Venediger an. Doch dieser sprach in herzlichem Tone: »Habet keine Angst! Ich weiss ja wohl, dass ihr die Steine mir entwendet habt, aber deswegen zürne ich euch nicht im Geringsten. In euerer Alp habe ich mehr als genug Steine gesammelt und habe ein grosses Vermögen daraus gelöst. Ihr seid immer gut und freundlich gegen mich gewesen. Aber das muss ich euch sagen: ›Tuet diese Reise nie mehr!‹ Denn ihr sollt wissen: Hättet ihr in dieser Stadt nicht an mir einen guten Freund getroffen, so wäret ihr nie mehr aus Venedig lebendig herausgekommen!« Nach diesen Worten öffnete er eine Falltüre im Boden, nahm das Geld des Urners und warf es in die dunkle Tiefe hinunter. Da drunten rauschte und brauste es, wie wenn ein grosser Bach vorüberfliessen würde. Dann nahm er seinen Gast, der nun glaubte, er habe das schöne Geld für immer verloren, an der Hand und führte ihn wieder in das Haus hinauf, indem er zu ihm sagte: »Wir wollen jetzt sehen, wo euer Geld schon ist.« Und er führte ihn zu einem grossen Spiegel und hiess ihn hineinschauen. Darin erblickte der erstaunte Älpler einen fremden Mann, der gerade seinen Habersack zu seinem, des Älplers, Häuschen trug und dann hinter der Stubentüre abstellte. Noch bewirtete ihn sein edelmütiger Freund reichlich mit Speise und Trank und schickte ihn dann auf die Heimreise, die merkwürdig rasch und leicht von statten ging. In seinem trauten Heim fand er den gut verschlossenen Habersack mit dem Gold unversehrt hinter der Stubentüre. Die Frau hatte zwar den Mann, der ihn gebracht, gesehen, aber nicht erkannt; schweigend, sagte sie, sei er sofort wieder umgekehrt.

Daniel Imholz, 50 J. alt, Unterschächen

b) Nach anderer Erzählart sah der Älpler im Spiegel, wie seine Frau zu Hause den Kindern die Haare kämmte und dabei weinte. – Zuletzt führte ihn der Venediger in ein kleines, finsteres Gemach und sprach zu ihm: »Lahnd-ich's nitt la grüsä, wennd's scho ä chly rumplet! Sobald d'Tirä-n-üffgaht, springet gleitig üsä!« Dann verliess er ihn. Einige Augenblicke vernahm der Älpler ein furchtbares Gepolter; plötzlich ging die Türe auf, und er sprang hinaus. Und siehe, es war die Hüttentüre, durch die er in seine Alphütte hineinsprang.

Zacharias Imholz, Spiringen, 40 J. alt

c) Der ihn gastierende Senn stahl ihm drei der Goldsteine, um ein Muster zu haben. Weil er sonst den Fremden gut gehalten, verzieh ihm dieser und nahm ihn gütig auf, als er hernach auch mit Goldsteinen nach Venedig kam, und beschenkte ihn reichlich. Dann musste er sich auf einen Stuhl setzen, worauf der Venediger zu haspeln und zu drehen begann, dass der Urner meinte, das Haus drehe sich mit ihm. Plötzlich sah er sich nach Hause in die Fellenenalp versetzt.

(Gurtnellen.)

d) Der Herr in Venedig war freundlich mit dem Senn und sagte: »Iähr sind i der Alp äu güet gäg-mer gsy. Iähr hem-mer von allem ggä, was iähr gha hennt, ohni us-em schwarzä Chibäli (Käslab) nitt.« – »Es wäre gefährlich, mit soviel Geld zufuss nach Hause zu reisen. Gehet jetzt in diese Kammer, stellet weder Stock noch Tornister ab und laufet die ganze Nacht in der Kammer herum. Wenn ihr dann denkt, es sei Morgen, leget euch ins Bett, das ihr da sehet.« Der Senn befolgte alles. Wie er sich ins Bett legte, so lag er auf einmal zu Wassen unter dem Bogen auf der Strasse. Wäre er nur noch wenige Schritte länger in jener Kammer gelaufen, so wäre er im eigenen Hause gelegen.

Jos. Baumann, Gurtnellen, 68 J. alt

e) Es war im obersten Bristenstäfeli beim Seeli. Der Venediger war nur so ein Zottermandli, d.h. in zerlumpter Kleidung, als er auf der Alp erschien. – In Venedig gab er dem Urner in einem Gutterli eine Flüssigkeit und sagte, wenn er müde werde und schläfrig, solle er davon einen Schluck nehmen, dann werde er wieder munter sein. Nach dem dritten Male aber solle er sich ruhig niederlegen und den Schlaf erwarten. Er tat so und erwachte zu Hause bei seiner Frau im Bette.

Jos. Maria Epp, Kreuzsteinrütti

f) Das Mandli kam mehrere Jahre; war klein und in zerlumpten Kleidern wie ein Fechtbruder. Der Kuhhüter begleitete ihn oft, und einmal ereignete sich auch die Szene mit dem Steinwurf. Der Senn sammelte nach und nach auch Steine. Der »Vinediger« lud ihn im letzten Jahre beim Abschied ein, mit seinen Steinen auch einmal nach »Vinedig« zu kommen usw. (fast genau wie auf Chammli). »Möchtest du sehen, was die Deinen zu Hause machen?« Der Senn musste dem Vinediger auf den linken Fuss stehen und über dessen rechte Schulter in einen Spiegel schauen. Da sah er zu Hause die Familie beim Zmorgetessen am Tisch, und die Mutter flocht einem Mädchen grad den Haarzopf.

Joh. Jos. Zgraggen, 60 J. alt

Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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