Die verbrannte Geiss

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf Alplen hatte lange Jahre der Brunneler-Franzsepp von Unterschächen das verantwortungsvolle Amt eines Hirten bekleidet. Er hatte viel »Gfell« mit den anvertrauten Rindern, aber nicht mit seinen eigenen Ziegen, die ihm in der Alp zu halten erlaubt war. Jeden Sommer bekamen sie die »Gelti«, eine Krankheit, welche den Ziegen die Milch nimmt und sie oft sogar tötet. Sie wurden blind und magerten zu Gerippen ab. Oft hörte man sie nachts im Stalle schreien und so kurios lärmen. Ein Pater Kapuziner, dem der geplagte Hirt klagte, tröstete ihn und meinte, es werde schon bessern. Er sollte sich täuschen, eine Ziege nach der andern fiel abermals der Seuche zum Opfer.

Aber im folgenden Sommer, als die erste Geiss an einem Striche ergaltete, da griff der Älpler zu einem Radikalmittel. Er nahm die »Gabälä« auf den Rücken, stieg hinunter in den Ruosalper Wald, lud eine schöne Bürde Holz auf und brachte sie bis unweit der Hütte. Dort aber warf er sie zu aller Verwunderung schweigend in einen tiefen Krachen hinunter, ohne den Fragenden über sein geheimnisvolles Benehmen Aufschluss zu geben. Gegen Mitternacht stand er auf, stahl sich heimlich aus der Hütte – »isch heimli üsätysselet« –, nahm die erkrankte Geiss und warf sie in den brennenden Scheiterhaufen im Krachen und verbrannte sie lebendig. Da ging unter den andern Geissen im Stall ein furchtbarer Lärm auf, so dass die im Obergaden schlafenden Knechte aufwachten und ins Freie liefen. Durch die Gräte und Flühe toste es wie beim ärgsten Hagelwetter, schwarze Wolken jagten wie Gespenster über die Alp; die Menschen zitterten, die Rinder stürmten in dichter Schar der Fluh zu und unter ihren Hufen donnerte der Erdboden. Die Knechte jammerten über die verlorenen Rinder; auch Franzsepp bekam Angst, antwortete aber nichts auf die vorwurfsvollen Fragen und Blicke der Älpler, sondern griff ernst und schweigend zur Volla, trat auf das Egg hinaus und rief mit aller Kraft nach allen vier Windrichtungen das Evangelium des hl. Johannes. Jetzt wurde es still in den Gräten und Felsen, der Wind legte sich, die Wolken wurden lichter. Doch die Älpler verbrachten eine angstvolle Nacht. Jetzt erst erzählte der Hirt von seiner Handlungsweise. Wie erstaunten sie alle am Morgen, als sämtliche Rinder gesund und heil auf ihren gewohnten Lagerplätzen ruhten. Keines fehlte, keines war verletzt! Die Ziegen blieben von nun an von der Gelti verschont.

Früher hatte sich dann und wann ein altes, unbekanntes Weib mit grossem Schinhuet auf dem Kopf in der Alp blicken lassen; das wurde seit jener Nacht nie mehr gesehen. Man vermutet, es sei eine alte Hexe gewesen, welche jeweilen die sonderbare Krankheit unter die Ziegen gebracht habe.

Diese Geschichte erzählte Franzsepps Bruder, Leonz, der mit zweien von seinen ältern Söhnen damals in der »Hirti« diente und das Ereignis miterlebte, seinen jüngern Söhnen und den Enkeln, die jetzt noch leben. Und wie ich sie von Enkel Daniel vernommen, habe ich sie niedergeschrieben.

Wie alte Leute aus dem Schächental erzählen, war es früher überhaupt Brauch, wenn die Ziegen die Gelti hatten, eine aus ihnen, etwa die elendeste und geringste, lebendig zu verbrennen. Andere, und zwar bis in die neueste Zeit, verbrannten Milch von einem der kranken Tiere.

Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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