Jagd am Feiertag

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

An einem Muttergottestag auf die Gemsjagd zu gehen ist frevelhaft und bringt sicher Unglück. Kein christlich denkender Mann wird an einem solchen Feste nach einem Grattier jagen.

1. a) Vier Männer aus dem Schächental, der Stäpheler-Seppli beim St. Antoni, der Isidori-Marie, des Sigersten Vinzenz und der Schloffi haben es einst mutwillig gewagt, am Muttergottestag z'Mitte Augsten auf Hochwild zu pirschen. Doch es ging ihnen dabei ganz wunderbar. Sie kamen bis in die Alp Gemsfeyer jenseits des Klausen, und da tauchten gar viele Tiere von allen Seiten vor ihren erstaunten und begierigen Blicken auf; aber zu einem Schuss kamen sie doch nicht, oder wenn auch, so bekamen sie doch geschossene Tiere nicht. Endlich stellte sich einem der drei Jäger ein stattlicher Bock in nächster Nähe; gemächlich konnte er auf denselben zielen, er drückte los, es krachte, er traf, so hatte er wenigstens geglaubt; aber der Bock rannte auf ihn los, schoss ihm zwischen die Beine, nahm ihn auf den Rücken und raste mit ihm wie besessen über Stock und Stein davon. Zum Glück konnte einer der drei andern Jäger, die hinter grossen Steinen lauerten, dem Vorbeirasenden rasch das Skapulier zuwerfen. Er ergriff das geweihte Zeichen und war gerettet.

Seitdem wäre keiner von ihnen um kein Geld in der Welt je wieder an einem Muttergottestag auf die Jagd gegangen; sie wollten auch nicht recht über ihr Erlebnis erzählen; nur Bruchstücke und rätselhafte Andeutungen brachte man aus ihnen heraus. Aber die Geschichte ist doch ausgekommen und mir von mehreren Seiten, wenn auch nicht übereinstimmend, erzählt worden. Übrigens sollen auch andere bei ähnlicher Gelegenheit ganz böse Erfahrungen gemacht haben.

b) Nach anderer Erzählart war es zu Weihnachten oder im Januar. Zehn Tage lang waren sie in der Fiseten auf der Jagd nach Gemsen, die sich ihnen massenhaft stellten, und doch brachte zuletzt ein jeder der drei Jäger nur einen Hasen als Jagdbeute heim. Die Gemsen hinterliessen im Schnee Rosspuren. Sie sahen auch einen Fuchs und gingen der Spur nach; diese verwandelte sich urplötzlich in eine Gemsenspur.

2. Auch Pfarrer Alois Arnold († 1831), ein leidenschaftlicher Gemsjäger, konnte sich einmal nicht enthalten, am Muttergottestag im Herbstmonat auf die Gemsjagd zu gehen. Da kam ihm ein Rudel mit einer prächtigen, schneeweissen Gemse an der Spitze entgegen. Er schoss nicht, sondern zog bekehrt nach Hause.

Pfr. Jos. Arnold; Frau Arnold-Gisler, Unterschächen, u.a.

3. Am Muttergottestag im Herbstmonat (8. September) ging ein Tresch von Bristen im Felleli auf die Gemsjagd. Es stellte sich ihm ein Trupp Gemsen, darunter eine weisse. Die weisse nahm er auf's Korn, und wie er meinte, traf er sie. Aber, wie ihm geschehen, was ihm das seltene Tier zugefügt, das wollte er seiner Lebtag nie bekennen.

Fidel Gisler

4. Trotz aller Abmahnungen ging ein Schächentaler an einem Eidgenössischen Bettag i d's G'jeg. Er wanderte über den Klausen, durchschritt die Klus, die Alp Gemsfeyer und kam in die Fiseten. Dort stand eine weisse Gemse. Der Jäger nahm sie auf's Korn und schoss. Da kam sie auf ihn zu, ebenso nach dem zweiten Schuss, nach dem dritten stiess ihn das Tier über die Fluh hinaus, wo er tot liegen blieb.

Michael Imholz, 75 J. alt, Isental

5. Der sogenannte Ratsherr Chiëffer, ein Dachdecker von Wassen, arbeitete am Kirchendach zu Gurtnellen. Es kam das Fest des hl. Michael, das zu Gurtnellen, weil Patronsfest, als Feiertag begangen wird. Der Wassener dachte, er sei kein Gurtneller, und da er nicht am Kirchendach arbeiten durfte, ging er am Vorabend spät mit einem Kameraden in die Gornernalp, die in der Gemeinde Gurtnellen liegt, um am folgenden Tage der Gemsjagd zu fröhnen. Bei Zeiten waren sie schon am Michaelstag auf den Beinen und marschierten den Bergen zu. Als sie nach Balmen kamen, pfiff es ihnen. Aber darauf achteten sie nicht. Sie kamen »uff d'Bäch« und erblickten die ersten Gemsen. Diese mehrten sich immer, und nach und nach waren es ganze Scharen. Endlich schossen die zwei Jäger, aber sie trafen keine, und die Tiere rührten sich nicht. Ja, ein Trupp lief gemächlich hart an ihnen vorbei; sie schössen auch auf diese mehrmals; aber keinem Tiere wurde auch nur ein Haar verbrannt. Jetzt graute es doch den beiden Jägern, und sie traten die Heimkehr an. Zu Balmen pfiff es ihnen wieder.

6. Der Schluchen-Hans pirschte am Muttergottestag im Herbstmonat im Fuxtal auf Grattiere. Der erste Schuss schlug ihn halbtot.

Jos. Gamma

7. Zu Mitte August, am Fest Mariä Himmelfahrt, gingen einst drei Jäger gemeinsam auf die Jagd. Auf dem »höchsten Bristen« schossen sie eine weisse Gemse. Als sie aber an Ort und Stelle kamen und die Beute sich aneignen wollten, da war die weisse Gemse verschwunden, und auf ihrem Platz stand eine schöne weisse Frau majestätisch vor ihnen. Man meint, es sei die Mutter Gottes gewesen. Diese sprach ernsthaft: »Ihr habt meinen Tag entheiligt. Dafür müsst ihr eine Strafe auf euch nehmen. Ihr könnt wählen. Wollt ihr lieber drei Klafter tief in den Erdboden oder auf die drei höchsten Gräte versetzt werden?« Die Jäger wählten das letztere. Da wurden sie in Steinsäulen, Steinmanndli, verwandelt und auf die drei höchsten Stöcke, auf den »höchsten Bristen«, auf den »höchsten Windgällen« und auf den »höchsten Krönten« versetzt. Dort sieht man sie heute noch. Alle Jahre (alle 100 Jahre) kommen die drei Jäger zu Mitte August auf dem höchsten Bristen zusammen und fragen oder klagen sich; der erste: »Wië lang sim-mer etz scho da?« Der zweite: »Wië lang miëm-mer ächt äu nu da sy?« Und der dritte antwortet: »Solang Gott will und dië liëb Müetter Gottes.«

Andere erzählen, der Schuss habe nicht getroffen, aber den Gewehrlauf gekrümmt. Statt des höchsten Krönten wird auch der Geissberg genannt, statt von drei Klaftern von neun Ellen gesprochen.

Dritte Erzählart: Vier Jäger, vier Steinmanndli: auf dem Mäntliser (besonders gut sichtbar), auf dem höchsten Bristen, auf dem höchsten Windgällen und auf dem Oberälper. Einer muss die grösste Kälte, der andere die grösste Hitze, der dritte den grössten Durst und der vierte den grössten Hunger ausstehen.

J.M. Zberg; Frz. Zgraggen u.a.m.

8. Der vierte Jäger erschien erst spät im Tage auf dem Plan. Ein prächtiges Grattier stellte sich ihm. Er legte an und zielte. Da hielt eine schöne weisse Dame das Tier an den Hörnern fest. Der Jäger wagte es nicht zu schiessen und liess das Gewehr sinken. Nun war die Dame verschwunden und stand die Gemse allein da. Zum zweiten Mal legte er an, und wieder stand die Dame neben dem Wild. Beim dritten Mal rief sie, er solle nur schiessen; weil er am Morgen seiner religiösen Pflicht nachgekommen, habe er eine köstliche, schöne Beute wohl verdient. Er schoss und erlegte einen kapitalen Gemsbock.

Die drei Jäger büssen noch heute auf ihren luftigen Höhen. Alle 100 Jahre zu Mitte August rufen sie einander zu. Der erste: »Wië lang sim-mer etz scho da?« Der zweite: »Wië lang gaht's äu nu?« Und der dritte antwortet: »Solang Gott will und Maria«, oder: »Das weiss Gott und Maria.«

9. Drei Jäger zogen am Muttergottestag zu Mitte August miteinander auf die Jagd und schossen eine weisse Gemse. Als sie dieselbe holen wollten, war sie verschwunden, und an ihrer Stelle stand eine schöne, glänzendweisse Frau und schaute die Jäger mit vorwurfsvollem Blicke an und sprach: »Ihr habt meinen Tag geschändet, und dafür müsst ihr eine Strafe auf euch nehmen. Ich will euch die Wahl lassen, ob neun Ellen tief unter den Firn oder auf die drei höchsten Berge verbannt oder zu Staub und Asche zerrieben zu werden.« Die drei Sünder wählten die Verbannung auf die höchsten Berge und wurden auf den Uri-Rotstock, auf den Rosstock und auf den Hohen Windgällen versetzt. Alle hundert Jahre rufen sie am fünfzehnten August einander zu, der erste: »Wië lang sim-mer ächt au scho hië?« der zweite: »Wië lang müëm-mer ächt nu da sy?« und der dritte: »Bis am Jüngstä Tag, und de chönne-m'r denn erst nu luegä, wiëss-is gaht.«

Die drei Berge heissen auch: Der Elfe-, der Zwölfe- und der Einsstock.

Frau Planzer-Gisler; J.J. Huber, Sisikon

Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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