Der flinke Heuer

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Das ist eine alte und recht sonderbare Geschichte. Heuer und Heuerinnen haben sie immer und immer wieder erzählt, wenn sie etwa im Schatten eines Baumes sassen und die Znünisuppe löffelten oder sonst ein wenig verschnauften. Der Heuet war ehedem eine lange und sehr strenge Arbeit. Ausser Sense, Gabel und Rechen gab es keine andern Werkzeuge. Es klingt darum aus diesem Märchen eine leise Sehnsucht nach irgend etwas, das diese schwere Arbeit verkürzt und erleichtert. Fast möchte man glauben, die Heuer von damals hätten in weiter Ferne schon das kommende Zeitalter der Maschinen geahnt. - Hört:

Die Zeit der Heuernte rückte wieder heran. Ein Bauer war in grosser Verlegenheit. Es fehlten ihm die nötigen Arbeitskräfte. Da machte er sich eines Tages auf den Weg, um Heuer zu suchen. Er wanderte durch viele Dörfer und hielt fleissig Nachfrage. Vergebens. Kein Bein konnte er auftreiben. So kehrte er denn gegen Abend verdrossen wieder heim. Da begegnete ihm auf der Landstrasse ein kleiner, aber kräftig gebauter Mann mit schlauen Äuglein. Der trug den Wanderstab über der Schulter und hatte seinen Kittel darangehängt. Der Bauer grüsste, blieb stehen und fing ein Gespräch an:

„Spazieren?“

„Oh nein. - Arbeit suchen.“

„Das trifft sich gut. Ich könnte einen Heuer brauchen.“

„Passt mir.“

„Kannst du mähen?“

„Kann alles.“

„Potz Donner! - Und wie heissest du?“

„Flinggi.“

„Oho! Das ist der richtige Name für einen Heuer. Der gefallt mir besser als Schlabi oder Plampi. Und - wieviel Lohn müsste es sein?“

„Ein Goldstück.»

“Mmm ! - Das ist viel. - Aber du sollst es haben. - Komm mit.“ Die beiden schlugen nun den Pfad nach dem Bauernhof ein. Unterwegs zeigte der Meister dem neuen Knecht die Gemarkungen seines Gutes: „Dort reicht es bis an jenen Wald, da drüben bis an den Bach und da unten bis an die Landstrasse. Bis das alles gemäht und unter Dach ist, werden einige Wochen vergehen.“ Flinggi lächelte schlau und meinte: „Zwei Tage!“ Der Meister dachte, entweder ist er ein einfältiger Tropf oder ein heilloser Plagöri.

Auf dem Hofe angelangt, gab der Bauer dem Knecht eine Sense und befahl ihm, auf der Hausmatte etwa zehn Mahden Grasig zu mähen. Der Knecht ging. Doch schon nach wenigen Minuten kehrte er wieder zurück und meldete:

„Grasig gemäht. - Fertig!“

Der Meister konnte es nicht glauben und schaute nach. Wirklich, da lagen zehn dicke, schnurgerade Mahden auf der Wiese. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.

Am folgenden Morgen sprach der Bauer: „Das Wetter ist gut. Jetzt gehts los. Heute musst du auf Tod und Leben den ganzen Tag Heu mähen, und dort, wo du bei Sonnenuntergang aufhörst, fängst du beim Morgengrauen wieder an. So geht es weiter durch Tage und Wochen, bis alles Heu unter Dach ist.“ „Mmhm“, machte Flinggi und lachte mit dem ganzen Gesicht. Dann nahm er Sense und Wetzstein und ging. Der Meister aber zog sich in ein Versteck zurück, um den Burschen zu beobachten. Da sah er sonderbare Sachen.

Der Mähder schritt mit geschulterter Sense durch das hohe Heugras und stellte sich ungefähr in die Mitte der weitläufigen Matte. Jetzt nahm er die Sense von der Schulter, wetzte sie und liess sie mit einem kräftigen Schwung im Kreise rings um sich durch das Gras sausen. Nur diesen einzigen Streich tat er. Dann stellte er die Sense vor sich hin, legte die gekreuzten Arme über den Worb und schaute lächelnd dem zu, was jetzt geschah. Und siehe! Um die ringförmige Mahde herum neigte sich das Gras gegen den Mähder und fiel geschnitten zu Boden. Schon neigten sich wieder andere Gräser, Halme und Dolden und sanken lautlos hin. Das sah genau so aus, wie wenn man einen Stein in ein stehendes Wasser wirft. Die Ringe gehen weiter, bis sie das Ufer erreichen. Auch hier wurde der Kreis des fallenden Grases immer grösser und grösser, bis er droben den Wald, drüben den Bach und drunten die Landstrasse erreichte. Jetzt lag alles Heugras geschnitten am Boden. Der Mähder nahm die Sense auf die Schulter und schritt gemütlich dem Hause zu. Er trat vor den Bauer und sprach:

„Heu gemäht. - Fertig!“

Der Meister, der alles beobachtet hatte, war sprachlos. Er begann sich vor dem unheimlichen Heuer zu fürchten und wich ihm überall aus. Dann aber kam die Sorge über ihn, wann man das viele Heu einbringen wolle. Wenn jetzt schlechtes Wetter einträfe, wäre die ganze Heuernte verdorben. Den Knecht beunruhigte das nicht im geringsten. „Morgen“, sagte er nur und lachte schlau.

Am frühen Nachmittag des nächsten Tages schöpfte Flinggi in der Nähe des Hauses ein Häufchen Heu zusammen. Das steckte er an die Gabel, trug es über die Einfahrt und warf es auf die Bühne. Nun begann ein neues, noch nie gesehenes Schauspiel. Das Heu auf der Wiese fing an sich zu kräuseln wie das Wasser eines Sees, wenn der Wind hineinbläst. Es bildeten sich kleine Wälmchen. Die wälzten sich über und über, vereinigten sich miteinander, wurden dicker und dicker und krochen wie riesige Graswürmer langsam dem Hause zu. Immer mehr Schwaden flossen zusammen, bis sich zuletzt ein einziger, mächtiger Walm bildete, der langsam über die Einfahrt kroch und sich auf der Bühne zur Ruhe legte. Der Heustock wuchs immer höher empor. Bis an das Schindeldach füllte sich das Haus mit chrüspeldürrem, duftendem Heu. Flinggi lehnte unterdessen am Einfahrtstor, schaute mit gekreuzten Armen dem Wunder zu und lachte schelmisch.

Die Sonne stand noch hoch am Himmel, und schon war das letzte Hälmchen unter Dach. Die Matte sah wie gekämmt aus. Der Heuet war zu Ende. Zwei Tage hatte er gedauert und keinen einzigen Schweisstropfen gekostet. - Nach einer Weile kam der Bauer auf die Einfahrt. Der Knecht ging ihm entgegen und meldete:

„Heu eingetan. - Fertig!“

Doch der Gebieter wusste ihm kein Dankeswort dafür. Noch immer schlotternd vor Angst und Aufregung rief er: „Mir graust vor dir. Was du verübt hast, das ist Teufelswerk. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Hier hast du das versprochene Goldstück. - Und jetzt packe dich fort und komme mir nie mehr unter die Augen.“ - Flinggi lachte spöttisch, hängte seinen Kittel an den Wanderstab, schwang ihn auf die Schulter und zog von dannen.

Nun war er fort. „Schade“, sagten viele Leute, „wir hätten ihn hier behalten sollen. So ein Phisikus läuft nicht alle Tage daher. Warum auch hinter allem immer einen Teufel sehen?“ - Noch mancher Bauer hat zur Sommerszeit, wenn die Ernte drängte, das Wetter jagte und die Arbeitskräfte fehlten, sehnsüchtig nach ihm Ausschau gehalten und seufzend gesproche: „Ach, wenn doch der Flinggi wiederkäme.“

Aber er kam nicht mehr - nie mehr - nie. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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