Lebendig begraben

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In der Nähe eines Dorfes stand ein Schloss. Darin wohnten vornehme, reiche Leute. Eines Sommers wurde die Schlossherrin plötzlich von einem Unwohlsein befallen. Schon nach wenigen Stunden sank sie in Todesschlummer. Man zog ihr ein kostbares Seidenkleid an, hängte ihr reichen Schmuck von Gold und Edelsteinen um und legte sie so in den Sarg. Dann wurde sie auf dem Dorffriedhofe unter den Trauerweiden begraben.

Der Sigrist war ein junger Mann. Er liebte ein Mädchen und hätte längst gerne geheiratet. Aber er hatte kein Geld, sein Gehalt war zu karg. Nun wusste er, dass man die vornehme Dame mit Ketten und Ringen geschmückt ins Grab gelegt hatte. Da trat der Versucher an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr: „Schade für das kostbare Geschmeide, das nun in der Erde verdirbt. Wenn du das hättest.-! Grab’ s doch heraus - und verkauf`s. Mit dem Erlös kannst du bekommen, was du schon lange möchtest: Ein Häuschen - ein Gärtchen davor - Blumen an den Fenstern - ein hübsches Fraueli, das den ganzen Tag um dich singt und zwitschert. Sei nicht dumm. Greif zu. Jetzt oder nie.“

Der junge Mann konnte der Versuchung nicht widerstehen. Um die Mitternachtsstunde schlich er auf den Friedhof und begann die lockere Grabeserde geräuschlos auszuheben. Die Trauerweiden boten ihm Deckung. Tiefer und tiefer schaufelte er sich. Bald musste der Sarg zum Vorschein kommen. Plötzlich tönte ein hohler Schrei durch die Stille. Schrecken packte ihn. Er horchte gespannt. Da - wieder ein Schrei. Jetzt hatte er richtig gehört. Aus der Tiefe des Grabes war er gekommen. Sollte die Tote zum Leben erwacht sein, - oder wollte ihr Geist ihn verderben? - Sollte er fliehen? - Noch bevor er sich recht besinnen konnte, tönte zum drittenmal der Schrei aus der Tiefe. Deutlich verstand er die Worte: „Ich er-stik-ke!“ Jetzt war kein Zweifel mehr möglich. Sie lebte, - war lebendig begraben worden. Er vergass, was er tun wollte und dachte nur noch an ihre Rettung.

Eiligst schaufelte er den Rest der Erde hinaus und brach den Deckel des Sarges auf. Die Totgeglaubte hob beide Hände hoch, atmete tief, und dann kam es freudig über ihre Lippen: „Luft - oh - Luft.“ Nach einer Weile richtete sie den Oberkörper auf und fragte: «Wo bin ich?“ Er gab keine Antwort, sondern schwang sich auf den Rand des Grabes, zog sie herauf und setzte sie unter den Trauerweiden auf den Rasen. Dort erzählte er mit flüsternder Stimme, was sich mit ihr ereignet. Sie schauderte. Als sie ihm aber für die Rettung danken wollte, da fiel er zitternd vor ihr auf die Knie und bekannte, dass er ihr den Schmuck habe stehlen wollen und nun an den Galgen komme. „Nein, nein“, beruhigte sie ihn, „du warst nur das Werkzeug, dessen sich Gottes Vaterhand zu meiner Rettung bediente. Du kommst nicht an den Galgen, dafür lass mich sorgen.“

Sie befahl ihm kurz und klar, was er tun und reden solle, um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln und keinen Verdacht zu wecken. Dann trug er sie ins Schloss. Dort verursachte ihr Erscheinen einen gewaltigen Schrecken, der sich aber bald in Freude und Jubel verwandelte. Die Dame lebte noch viele Jahre. Sie betrachtete dieses zweite Leben als ein kostbares Geschenk Gottes und nützte es, um reichlich Gutes zu tun. Ihrem Retter war sie stets dankbar und beschenkte ihn so reich, dass er jetzt alles besass, was er sich immer gewünscht hatte: Ein Häuschen - ein Gärtchen davor - Blumen an den Fenstern - ein herziges Fraueli, das den ganzen Tag um ihn singt und zwitschert. - Aber ein Schatten lag doch zeitlebens auf seinem Glück. Erst auf dem Sterbebett offenbarte er, was im Leben nie über seine Lippen kommen durfte.

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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