Vom gschide Chiristi und vom Lappihans

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

 

In einem entlegenen Bergdorfe lebte einst ein wohlhabender Bauer. Der hatte zwei Söhne; Hans und Christof hiessen sie. Hans war ein gutmütiger Träumer, nicht dumm, aber auch nicht witzig. Er vergass sich oft und konnte stundenlang einem Vöglein zuschauen, das die Jungen fütterte, oder einem Wurm, der über den Weg kroch, oder einer Ameise, die ein Körnchen schleppte. Bei der Arbeit blieb er nicht selten stehen, um den andern zuzuschauen. Wenn dann der Vater mahnte: „Heh, Hans, gehörst du auch zu uns?“ - dann erwachte er aus seinem Traume, griff zu Gabel oder Rechen und schaffte mit. Christof, sein Bruder, war ganz anderer Art. Er arbeitete fleissig, war besonnen und wusste überall seinen Vorteil wahrzunehmen. Besondern Spass machte es ihm, wenn er seinen Bruder im Handel übertölpeln konnte. Dann sagte der Vater jeweils: „Christi, das hast du gescheit gemacht; der Hans aber ist ein Lappi.“ So kam es, dass die Brüder nur noch der „gschid Christi“ und der „Lappihans“ hiessen.

Wenn jemand etwas Dummes anstellt, so lachen die Leute noch lange darüber und erzählen es weiter; aber etwas Kluges übergehn sie schweigend. Darum werden Lappihansens Albernheiten noch heute erzählt, während die Schlauheiten des gschiden Christi längst vergessen sind.

Einst arbeiteten der Vater und der Christi auf einer entlegenen Bergmatte. Hans sollte ihnen das Mittagessen bringen. Es gab Chnuttelini und Reisbrei. Als er so des Weges ging, sprang plötzlich ein Hund hinter einem Hause hervor, bellte ihn an und fletschte die Zähne. Hans meinte, das Tier wolle ihn zerreissen. In der Todesangst suchte er nach Steinen, fand aber keine. Da griff er in den Korb und schleuderte ein braungebackenes, knusperiges Chnutteli gegen den Hund. Der stürzte sich darauf und verschlang es. Dann knurrte und bellte er von neuem, und Hans warf ihm das zweite Stück. So ging es fort, bis alle Kugeln verschossen waren. Jetzt endlich ergab sich die Bestie und zog sich mit einem gerundeten Bauch hinter das Haus zurück. Hans war gerettet und freute sich seines klugen Einfalls.

Im Weitergehen kam er an einer Felswand vorbei. Da sah er etwas, das ihn alles andere vergessen liess. Ameisen krabbelten über das Gestein und schleppten schwere Lasten. Der Fels war voller Spalten, und die armen Tierlein hatten unendliche Mühe, diese zu überqueren. Oft stürzten sie samt ihren Bürden in so einen Abgrund und mussten auf der andern Seite den steilen Hang wieder emporklettern. Hans hatte Erbarmen mit diesen kleinen Geschöpfen. Er entnahm dem Korb die Schüssel und den Löffel und fing an, die Felsspalten mit Reisbrei auszupflastern und zu ebnen, damit die Ameisen ungehindert darüber laufen könnten. So arbeitete er bis die Schüssel leer war. Jetzt erst machte er sich wieder auf den Weg. Spät nachmittags langte er endlich auf der Bergmatte an. Als sich Vater und Bruder mit brandschwarzem Hunger über den Korb hermachten, fanden sie nur eine leere Schüssel.

Ein andermal sollte Hans auf dem Berg droben ein Schaf holen. Unterwegs traf er den alten Pfarrer, der einen kranken Hirten besuchen wollte. Da sie beide den gleichen Weg zu machen hatten, gingen sie miteinander. Aber der Pfarrer blieb alleweil stehen, um zu verschnaufen. Jetzt erbot sich Hans, ihn auf den Schultern bis zur Hütte hinauf zu tragen. Weil keine Zuschauer zu befürchten waren, nahm der Pfarrer das Angebot dankend an. Wie nun der gutmütige Junge schweigend mit seiner Bürde bergan stieg, da vergass er sich wieder einmal. Seine Gedanken eilten der Zeit voraus, und es war ihm, als käme er jetzt schon vom Berg hernieder und trüge das Schaf auf den Schultern. Er klemmte dem Pfarrer die Waden und redete zu sich selber: „Bist du feist, heh, bist du feist?“ Erst als der Geistliche ihm die Ohren zupfte und zu sprechen begann: „Heheh, Hans - sei anständig und mache keine Flausen!“ - da erst fand er sich in die Wirklichkeit zurück, und seine Wangen färbten sich puttelrot vor Scham.

Nachdem der Vater gestorben war, wurden die beiden Brüder rätig, die Kühe zu teilen. Lange konnten sie sich nicht einigen. Endlich machte Christi diesen Vorschlag: „Wir öffnen beide Stalltüren und binden die die Tiere los. Diejenigen, die zur hintern Türe hinausgehen, gehören dir, und die, welche zur vordem hinausgehen, gehören mir. Hans war einverstanden. Vor der Teilung gab Christi den Tieren viel Salz zu lecken, davon sie grossen Durst bekamen. Als sie nun losgebunden wurden, sprangen alle zur vordem Türe hinaus, denn dort stand der Brunnen, nur ein steinaltes „Ruuggeli“ fand durch den hintern Ausgang den Weg ins Freie. Das war jetzt Hansens ganze Habe. Der gschid Christi aber rieb sich schmunzelnd die Hände und log so unverfroren: „Ich kann wirklich nichts dafür, dass die Tiere mich lieber haben als dich.“ - Das war sein letzter Triumph, denn just an diesem Tage kehrte sich das Glück von ihm ab und wandte sich dem Bruder zu.

Lappihans dachte: „Was soll ich mit einer einzigen Kuh noch länger bauern. Ich will sie lieber metzgen, die Haut verkaufen und etwas anderes anfangen.“ Gedacht, getan. Am nächsten Tage schlachtete er das Tier, rollte die Haut zusammen und trug sie nach der Stadt. Das war aber ein weiter Weg. Hans wanderte und wanderte und gelangte endlich in einen grossen Wald. Inmitten desselben überraschte ihn die Nacht. Jetzt kam er zu einer kreisrunden Lichtung. Auf dieser stand eine mächtige Tanne mit breiten Ästen, die fast bis auf den Boden reichten. Er entschloss sich hier zu übernachten, kletterte auf den Baum und suchte sich in luftiger Höhe einen bequemen Sitz.

Mitten in der Nacht gab es auf einmal ein Mordsgefläder. Drei Hexen - jede von einer andern Seite her - ritten auf Besen heran und liessen sich unter der Tanne nieder. Sie schwatzten, lachten und tschädereten durcheinander wie eine Elsternschar. Dann tanzten sie wie besessen um den Baum. Als sie sich ausgetobt hatten, begann die eine: „Nun, Schwestern, erzählt, was ihr verübt habt. Ich selbst hatte einen schlechten Tag; - niemand umgebracht, nichts gestohlen, nichts verdorben. Aber von heute an muss es anders gehen.“ - Jetzt redete die Zweite: „Schaut, das habe ich gestohlen, ein Säcklein voll Goldstücke, doch sage ich nicht bei wem. Lüpft einmal, wie schwer das ist. Ich verstecke meinen Raub einstweilen hier im hohlen Baum. Sobald die Luft sauber ist, hole ich ihn.“

Nun berichtete die Dritte: „Ich hatte einen guten Tag. Drunten in der Stadt kehrte ich beim reichen Löwenwirt ein und machte sein schönes Töchterlein krank. Jetzt liegt es fieberglutig im Bett. Die Ärzte kommen und gehen. Keiner kann helfen. Man müsste ihm herzwarmes Blut von einem schwarzen Hund zu trinken geben, dann würde es wieder gesund. Aber wem käme das in den Sinn? Nach drei Tagen wird das Mädchen sterben.“ - „Hui, das hast du gut gemacht!“ riefen jetzt die andern Hexen, reichten sich die Hände und tanzten abermals wie toll um den Baum herum. Auf einmal schrie eine: „Es taget überm Wald!“ Da eilten sie zu ihren Besen und flogen mit Geschrei von dannen.

Lappihans glaubte, er habe geträumt. Mit sturmem Kopf stieg er vom Baume hernieder. In der Höhlung des Stammes fand er das Säcklein mit den Goldstücken. Die Hexen mussten also wirklich dagewesen sein. Er wickelte die Beute in die Kuhhaut und machte sich auf den Weg. Nach langer Wanderung erreichte er die Stadt. Dort verkaufte er einem Gerber die Haut. Dann schlenderte er planlos durch die Gassen und Gässchen. Plötzlich stand er vor einer grossen Wirtschaft, an der ein goldener Löwe als Schild prangte. Er trat ein und liess sich einen Trunk geben. Die Wirtsleute waren sehr betrübt und erzählten, ihr einziges Kind, eine Tochter von zwanzig Jahren, sei zum Sterben krank, und kein Doktor könne ihr helfen. „Sie ist verhext worden“, sagte jetzt Lappihans. - „Dumms chibe Züg“, brummte der Wirt, schüttelte ärgerlich den Kopf und ging hinaus. Die Wirtin, die heimlich auch schon an eine Verhexung gedacht, aber es nie auszusprechen gewagt hatte, setzte sich neugierig zu Hans an den Tisch, und er erzählte ihr sein nächtliches Erlebnis im Walde. Das brachte die Frau in freudige Aufregung. Noch in der gleichen Stunde wurde ein schwarzer Hund geschlachtet und sein warmes Blut der Tochter zu trinken gegeben. Augenblicklich fühlte sich die Jungfrau gesund, stand auf, fiel ihrem Retter um den Hals und küsste ihn dankbar. Der Wirt tat ganz närrisch vor Freude. Er machte Hans reiche Geschenke und führte ihn endlich mit seiner Kutsche nach Hause zurück.

Als der gschid Christi seinen Bruder in dem noblen Fuhrwerk heimkehren sah und die Reichtümer gewahrte, die er mitbrachte, da erwachte in ihm der böse Neid. Hans musste ihm seine Erlebnisse genau erzählen. Da dachte er: „Wenn schon der dumme Lappi so viel Glück hatte, wieviel mehr müsste ich erst haben.“ Er schlachtete auch eine Kuh, nahm die Haut unter den Arm und eilte der Stadt zu. Gegen Abend durchquerte er den grossen Wald, fand die Lichtung, kletterte auf den Baum und wartete gespannt auf die Wiederkehr der Hexen. Um Mitternacht flogen sie daher und liessen sich unter der Tanne nieder. Da begann die eine zu jammern und zu heulen: „Das Gold ist fort. Es muss jemand hier gewesen sein.“ Die Zweite schnaufte vor Zorn und rief: „Die Wirtstochter ist wieder gesund geworden. Es muss uns letzte Nacht jemand belauscht haben. Hah! wenn ich den erwische, in hundert Stücke zerreisse ich ihn.“

Jetzt bekam Christi auf dem Baum droben eine heillose Angst. Er begann zu zittern und zu schlottern. Die Kuhhaut entglitt seinen Händen und fiel just auf die Hexen hinunter. Die fuhren kreischend auf und spähten ins Geäst des Baumes. Plötzlich schrie eine: „Seht, seht! Da droben hockt er, der Dieb, der Lauscher, der Verräter!“ Mit einem Wutgeheul kletterten alle drei wie blutgierige Katzen den Baum hinauf, ergriffen den gschiden Christi und zerrissen ihn zu Fetzen und zu Flaum.

Lappihans erbte die Güter seines Bruders, heiratete des Löwenwirts einzig Töchterlein und wurde so der reichste Mann des Landes

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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