Der Kirchhof zu Sellenbüren

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Eines Tages schlenderte ein Büblein singend zum heimeligen Dorf Sellenbüren hinaus. Es hatte im Sinn in den nahen Wald zu gehen und dort im Unterholz Erdbeeren zu suchen.

Es war ein sonnenvoller Sonntagnachmittag, und kein Mensch war über Feld; nur die Vöglein lobten Gott in ewigem Chor. Guten Muts trieb sich der Junge am Waldrand um. Er schaute dem Spiel der Eidechsen und Falter zu und begann, die Erdbeeren, die ihre roten Käpplein aus dem Moos streckten, zu pflücken.

Auf einmal kam es ihm vor, irgendwo im Busche gehe ein Glöcklein um. Es klang grad so, wie wenn das Versehglöcklein durchs Tal klingelt. Das wunderte ihn gewaltig, denn er war schon gar weit in den Wald hineingekommen, aber eine Kirche hatte er niemals darin gesehen. Er schloff also durchs Unterholz, und es dauerte nicht lange, so lief er unter den Buchen und Tannen des Hochwaldes. Wohl hörte er das Läuten der Bienen hoch in den Baumkronen, aber immer deutlicher auch ein wundersam klingendes Glöcklein, das er noch nie zuvor vernommen.

Da stolperte er über eine Wurzel und fiel hin. Als er aber wieder aufstand, sah er vor sich, rings von Wald umgeben, eine kleine Wiese, und die glänzte wie Gold und Silber und zwar so gewaltig, dass es ihn schier blendete.

Jetzt fiel es ihm ein, dass ihm die Mutter erzählt hatte, es liege irgendwo im Wald ein verwunschener Kirchhof, um dessen Kapelle das alte Adelsgeschlecht derer von Sellenbüren begraben sei, und in dem ein Schatz von guten Geistern bewacht werde. Aber so oft die Leute auch nach diesem Friedhof gesucht hätten, noch nie sei er jemandem zu Gesicht gekommen.

Nun wurde es dem Knaben unheimlich. Er wollte sich schleunigst wieder in den Wald zurück und nach Hause machen. Aber als er den Fuß hob, gab es unter ihm ein feines Klingeln. Er sah zu Boden und gewahrte jetzt zu seinem Erstaunen zwei blitzende Goldstücke im Gras. Nun ward er doch neugierig, und wie er um sich schaute, sah er, dass die ganze Wiese mit glitzernden und funkelnden Gold- und Silberstücken übersät war. Es sah aus, als wüchse statt der Blumen auf der Waldwiese lauter Geld.

Jetzt bemerkte er auch, dass zwischen diesem Gold und Silber wunderliche Geschöpfe, die nicht größer waren als er, hin und her liefen. Noch nie hatte er etwas Lieblicheres gesehen. Ihre Kleidchen waren goldigweiß wie ein Firnfeld, auf das am Regentag unversehens die Sonne scheint. In den Locken aber, die aussahen wie gesponnenes Gold, lagen Kränze aus Sternenblumen, die also glänzten, dass sie einen doppelten Heiligenschein gaben. Es kam dem Büblein nicht anders vor, als ob lauter Sonnenstrahlen über die Wiese hin und her gingen.

Aber plötzlich hörte es das seltsame Klingeln wieder, und mit Schrecken gewahrte es widerliche Zwerge mit grauen Augen und ungeheuern Nasen, die umfangreiche Säcke auf die Wiese schleppten, und die sie, auf den Wink der lieblichen kleinen Wesen, allüberall ausschütteten. Jetzt merkte er, woher das wohltuende Klingeln und Läuten kam, das ihn hergelockt hatte.

Mit Andacht, ganz benommen von all dem Glanz und Wohlklang, schaute er ein Weilchen dem Treiben in der Waldlichtung zu, und mit einem Male war von ihm alle Scheu wie weggeblasen. Mir nichts, dir nichts lief er in die Wiese hinein, also dass das Gold und Silber nur so wie Kieselsteine zur Seite sprang und rief aus: „Gebt mir auch von dem schönen Spielzeug!“

Die lieblichen Geistchen, die so fein und leuchtend waren, als hätten sie sich mit dem goldenen Strahlenwerk des Sonnenknäuels umwickelt, lächelten und winkten ihm freundlich zu. So griff er denn flink ins Gras und fing auf Tod und Leben an, die gleißenden Gold- und Silbermünzen einzusacken. Aber wie er einmal aufschaute, nahm er wahr, wie ihn die hässlichen Zwerge aus ihren grauen Augen schrecklich anstierten. Entsetzt sprang er auf und schoss, wie ein Haselhühnchen aus dem Busch, auf und davon, in den Wald zurück. Nicht ein einziges Mal sah er sich um und hielt auch nicht einen Augenblick an, bis er ganz erschöpft und keuchend vor seiner Mutter stand, die grad die durchsichtige Wassersuppe auf den Tisch stellte. Mit fliegendem Atem erzählte er ihr, was er gesehen und erlebt und ließ dann aus seinen Taschen die Gold- und Silbermünzen auf den Tisch tanzen. „O du Glückskind“, schrie die Mutter auf, „du hast den Schatz gefunden!“

Rasch wie der Blitz holte sie den Vater aus dem Wirtshaus, und darnach machten sie sich zu dritt, mit großen Erdäpfelsäcken, der Kleine voran, aus dem Dorf, um im nahen Wald den verwunschenen Schatz zu holen.

Wohl liefen sie lange im Wald herum, bis ihnen vor Hunger die Ohren gnappten, und wohl blieb das Büblein scheu an einer kleinen Waldwiese stehen und behauptete steif und fest, da müsste der Schatz sein. Aber wie sie auch schauten, sie sahen nichts als gelbe und weiße Blumen. Wohl liefen sie die Wiese auf und ab, doch sie konnten auch dann nichts anderes wahrnehmen, als einen Schwarm weißer Falter und einen Umgang dicker leuchtender Hummel.

 

 

Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

 

 

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