Die goldene Stadt

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Bei Dinhard ist ein Wald, in dem’s ein frohes Wandern ist. Auch liegt sich’s dort so lauschig herum, und es wird einem so märchenhaft zu Mut. Es ist einem, hinter jedem Baum stecke irgend ein elbisches Wesen, so dass man unwillkürlich zusammenschrickt, wenn ein Eichkätzchen blitzgeschwind und vor Angst selber einen Schrei herauskollernd, an einem Stamm hinaufschnellt.

Das alles mag daher kommen, weil dort die eine Waldseite von jeher als verrufenes Gebiet galt. Die Jäger, die sonst auf fröhlicher Pirsch keineswegs so scheu zu sein pflegen, sollen es früher nie gewagt haben, den verrufenen Teil des Dinharder Waldes zu betreten. Taten sie’s doch, so wurde es ihnen wirblig im Kopf, sie fielen bewusstlos ins Moos, und nachher, wenn sie doch wieder erwachten und glücklich davon kamen, erzählten sie, sie hätten durch die Stämme eine goldene Stadt erblickt, aber im selben Augenblicke seien sie auch ohnmächtig hingefallen.

Eines Tages nun ging ein leidenschaftlicher Weidmann, namens Hans Hug, im Wald von Dinhard wieder einmal auf die Jagd. Lange wollte ihm nichts vor die Flinte kommen. Da, als er schon ärgerlich werden wollte, sprang mit einem Male ein Reh vor ihm auf. Eifrig verfolgte er’s. Aber es schien keine besondere Eile zu haben. Immer jedoch, wenn er drauf anlegte, verschwand es hinter einem Baumstamme, so dass er nie zum Schuss kam. Das brachte ihn so auf, dass er wie toll hinter dem Reh her lief, aber obschon es geradezu auf ihn zu warten schien, vermochte er’s doch nie zur Strecke zu bringen. Das machte ihn so alles vergessen, dass er die Grenzen des verschrienen Waldes außer acht ließ.

Und nun meinte er, das flüchtige Reh sogar mit der Hand packen zu können. Da musste er plötzlich anhalten, denn vor ihm war ein Aufleuchten, das ihn fast blendete. Und jetzt stand vor ihm, statt des Rehes, eine bildschöne Jungfrau, und hinter ihr glaubte er, durch die Baumstämme eine goldene Stadt zu sehen. Aber da fing vor seinen Augen ein sinnberückender Strahlentanz an, also dass ihm alles um und um ging, und unversehens sprang von einem Obstbaum, der sich in voller Blustherrlichkeit über der schönen Jungfrau wölbte, ein hässlicher kleiner Zwerg, und der schlug ihn mit einem Stock grinsend auf den Kopf. Die Sinne schwanden ihm, er plumpste ins Farnkraut.

Er wusste nicht, wie lange er gelegen hatte, als er endlich wieder aus seiner Betäubung erwachte. Mit scheuen, schier furchtsamen Augen schaute er sich um, aber die goldene Stadt, Jungfrau und Zwerg, waren spurlos verschwunden. Nichts als ein dichter Hochwald war um ihn, der gar geheimnisvoll rauschte.

Da erhob er sich. Doch schrak er schier zusammen, als eine große Ratte, die ein Nadelhölzchen im Spitzmäulchen trug, über ihn hinwegsprang. Und erst jetzt gewahrte er, dass er in einem ekelhaften Kotgraben gelegen hatte. Flink machte er sich heraus und lief dann, so rasch er’s vermochte, aus dem spukenden Walde heimzu.

 

 

Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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