Der Sonnenprinz

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal ein Vater und eine Mutter mit vier Kindern, einem erwachsenen Mädchen und drei noch kleinen Buben. Der Vater wollte seine Tochter mit einem Mann verheiraten, der ihm gefiel. Aber der Tochter passte dies nicht. Da beschloss er, sie zu töten.

Aber eines Tages sagte das Mädchen seiner Mutter, sie solle schauen, was an der Wand ihrer Schlafkammer geschrieben stehe. Als die Mutter in die Kammer der Tochter ging, sah sie eine Inschrift an der Wand: «Eure Tochter ist meine Braut, und ich bin der Sonnenprinz.» Als die Mutter in die Stube zurückging, da war die Tochter verschwunden. Der Sonnenprinz hatte sie mitgenommen.

Seitdem war die Mutter immer sehr traurig, und sie weinte viel. Das merkten auch die drei Buben, als sie erwachsen waren, und sie bedrängten die Mutter, ihm zu sagen, weshalb sie immer so traurig sei.

Als die Mutter ihnen das Schicksal ihrer Schwester erzählt hatte, war es mit ihrer Ruhe vorbei. Der älteste Bruder nahm das schönste Pferd aus dem Stall und ging den Sonnenprinzen suchen. Nach einer langen, langen Reise gelangte er zu einem grossen und hohen Haus, wo er sein Pferd neben dem Tor anband. Da kam eine Frau heraus und sagte, er solle mit seinem Pferd in den Stall gehen, hier dulde man keine Pferde.

Als er das gemacht hatte, fragte die Frau, wohin er denn noch reisen wolle. «Oh, ich muss meine Schwester suchen gehen, die ist mit dem Sonnenprinzen verheiratet!» antwortete der Bursche. «Dann bist du mein Bruder!» sagte da die Frau und umarmte ihn. Beide gingen dann zum Sonnenprinzen. Der Bursche bat ihn, die Schwester für einen Tag nach Hause gehen zu lassen, damit sie die Mutter noch einmal besuchen könne. «Das will ich schon erlauben», antwortete der Sonnenprinz, «wenn du meine Schafe einen Tag lang hütest. Zum Zeichen aber, dass du gehütet hast, wie es sich gehört, musst du mir am Abend von dem bringen, was die Schafe fressen.»

Der Bursche dachte: «Das ist nicht schwer», und er nahm am andern Morgen in aller Frühe die Schafe des Sonnenprinzen und ging mit ihnen weg. Die Herde kam bald in ein riesiges Tal. Die Schafe konnten gut durch den Fluss schwimmen, der durchs Tal floss. Aber der Bursche wusste nicht, wie er übers Wasser sollte.

Als die Schafe drüben auf der andern Seite des Wassers sahen, dass der Hirt zurückblieb, schickten sie zwei alte Tiere hinüber, und die gaben dem Burschen zu verstehen, er solle sich an ihren Schwänzen festhalten.

Doch dem Hirten fehlte der Mut, und er getraute sich nicht, das zu tun, was die Schafe wollten. Bis am Abend wartete er diesseits des Tales, und als die Schafe wieder zurück waren, rupfte er etwas Gras ab und steckte es in seine Tasche. Denn er meinte, die Schafe hätten sicher davon gefressen.

Als er zum Haus des Sonnenprinzen kam, verbeugten sich die Schafe zuerst vor dem Prinzen, dann vor seiner Frau und zuletzt vor dem Hirten. Der zeigte dann dem Prinzen das Gras in der Tasche. «Das fressen meine Schafe nicht!» antwortete aber der Prinz, und der Bursche ging traurig nach Hause.

Dann wollte der mittlere Bruder versuchen, die Schafherde des Sonnenprinzen zu hüten. Aber auch er hatte nicht den Mut, sich an den Schwänzen der Schafe festzuhalten und blieb zurück. Am Abend sammelte er etwas Laub, steckte es in die Tasche und brachte es dem Sonnenprinzen. Als der Sonnenprinz das Laub sah, sagte er: «Du hast die Schafe nicht gehütet und musst ohne deine Schwester nach Hause!»

Als auch dieser Bruder ohne die ersehnte Schwester zurückkam, machte sich der Jüngste auf die Suche. Nach einer Reise von vielen Jahren und Tagen gelangte er zum Haus des Sonnenprinzen. Seine Schwester trat auch aus dem Haus, als er das Pferd anbinden wollte. Und als der Sonnenprinz hörte, was er wollte, stellte er ihm die gleiche Aufgabe wie seinen Brüdern.

Beim Morgengrauen ging der Bursche mit den Schafen weg. Doch als sie beim Fluss im Tal waren, liess er von den alten Schafen hinüberziehen, denn sie waren zurückgekommen, um auch ihn zu holen.

Am andern Ufer sah der Bursche die Schafe in eine Kapelle gehen. Beim Hineingehen verwandelten sich alle in Menschen, und in der Kapelle feierten sie eine Messe. Danach gingen sie ins Wirtshaus nebenan und liessen sich dort ein Festessen auftischen. Da sah der Bursche, welch gute und feine Sachen die Schafe zu fressen hatten, und er steckte ein wenig vom besten Kuchen in seine Tasche.

Abends auf dem Heimweg mit seiner Herde zogen ihn die beiden alten Schafe wieder über den Fluss. Zuhause aber verbeugte sich die Herde zuerst vor ihm, dann vor dem Prinzen und zuletzt vor seiner Frau. Als der Bursche dem Prinzen den Kuchen zeigte, machte dieser, dass er und seine Schwester am andern Morgen zu Hause waren. Dort blieb die Schwester bis am Abend. Als die Sonne untergegangen war, verschwand sie für immer.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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