Die drei Rätsel von den Knochen

Land: Schweiz
Kategorie: Novelle

Es war einmal ein Jäger, der ging auf die Gemsenjagd. Aber an diesem Tag hatte es Nebel, und der Jäger erschoss einen andern, den er für eine Gemse hielt.

Dem Jäger tat dies furchtbar leid, doch geschehen ist geschehen, und er konnte nichts mehr ändern.

In diesem Land regierte eine Königin, und die war eine Hexe. Die Königin liess aus dem Kopf des erschossenen Jägers einen Nachttopf, aus den Beinen einen Sessel und aus dem Hintern einen Spiegel machen. Dann befahl die Königin dem Jäger, der den andern ohne böse Absicht erschossen hatte, zu kommen und setzte ihm den Nachttopf, den Sessel und den Spiegel vor. «In einem Jahr und einem Tag musst du wissen, woraus dieser Nachttopf, dieser Sessel und dieser Spiegel gemacht worden sind», sagte die Königin zum Jäger. «Kannst du es nicht erraten, so lasse ich dich aufhängen. Kannst du es erraten, so komme ich an den Galgen.» Der Jäger schaute den Nachttopf, den Sessel und den Spiegel lange an. Aber es half nichts, er kam nicht darauf.

Ganz traurig nahm der Mann Stock und Bündel und machte sich auf den Weg. Er musste jemanden finden, der wusste, woraus der Nachttopf, der Sessel und der Spiegel sei. Der Mann zog lange in der Welt herum, aber weder Geistliche noch Herren konnten ihm helfen, und das Jahr und ein Tag waren bald vorbei.

Als er einmal durch einen Wald ging, sah er eine riesige Höhle. Und da es leides Wetter war, trat er ein, um unterzustehen. Er stieg ein Stück weit im Dunkeln hinunter, bis er zu einem grossen Holztor kam. Davor lag ein schwarzer Hund und schlief. Der Mann öffnete das Tor, und dann war die Dunkelheit vorbei, und er stand im Halbdunkeln. Die Tür fiel mit einem Knall hinter seinen Fersen zu. Aber der Jäger fürchtete sich nicht und ging ein gutes Stück weiter. Dann kam er zu einer riesigen Eisentüre. Davor lag ein schwarzer Hund und schlief. Der Jäger öffnete den Riegel des Eisentors und kam in die Helligkeit. Das Tor fiel wiederum mit einem Knall hinter seinen Fersen zu. Aber der Jäger war dies jetzt gewohnt, und er zog sicheren Schrittes los.

Nachdem er eine grosse Strecke zurückgelegt hatte, kam er zu einem prachtvollen Goldtor. Davor lag ein grosser Hund und schlief. Er öffnete das Tor und trat in den helllichten Tag. Auch das Goldtor fiel mit einem Knall hinter seinen Fersen zu. Der Jäger kam in einen grossen schönen Saal, und dort war eine uralte Frau. Die Alte sagte: «Ich weiss schon, was du von mir wissen willst. Du musst ja bloss erraten, dass man aus dem Kopf des Mannes, den du erschossen hast, einen Nachttopf, aus den Beinen einen Sessel und aus dem Hintern einen Spiegel gemacht hat.» Da bedankte sich der Jäger heiss bei der Alten, und sie sagte: «Ich muss dich schnell zurückführen, denn jetzt sind meine drei Hunde wach, und sie würden dich fressen, wenn ich nicht bei dir wäre.» Die Alte ging mit ihm zurück, und sobald sie das Goldtor öffnete, wachte der schwarze Hund auf und verzog grimmig das Maul, als ob er beissen wolle. Aber die Alte besänftigte den Hund, und er liess sie durch. Auch die beiden andern Hunde waren keine harmlosen Kerle, aber die Alte besänftigte sie, und sie taten dem Mann nichts. Der Jäger bedankte sich nochmals sehr bei der Alten, und dann ging er schnell nach Hause. Er kam gerade dann zurück, als das Jahr und ein Tag vorbei waren.

Die Königin und viel Volk standen auf dem Platz, wo sie einen neuen Galgen bereitgestellt hatte, um den Jäger aufzuhängen. Die Königin setzte dem Jäger Nachttopf, den Sessel und fragte ihn, woraus diese Sachen gemacht worden seien. Der Mann antwortete: «Der Nachttopf wurde aus dem Kopf, der Sessel aus den Beinen und der Spiegel aus dem Hintern des Mannes gemacht, den ich ohne böse Absicht erschossen habe.» Die Königin musste zugeben, dass er richtig geraten hatte. Und dann hängten sie die Königin an dem Galgen auf, den sie für den Mann errichtet hatte.

 

Thompson Motiv H 805 (Rätsel des getöteten Liebhabers)

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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