Die Seele des Riesen

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Ein Vater versprach seinen Sohn einem Mann, dem er einmal unterwegs begegnet war und der ihm Geld gegeben hatte. Wenn auch ungern, brachte der Vater den Burschen am abgemachten Tag ans Meer, wo der Mann ihn abholte.

Der Mann führte den Burschen in einen dunklen Saal, wo er niemanden sah. Aber in der Nacht dünkte es ihn, es käme jemand ins Zimmer, doch er konnte nicht herausfinden wer.

Nach einer Weile öffneten sich auf einmal die Fensterläden des Saales, und er sah das Tageslicht. Als er aus dem Fenster schaute, war da ein grosser Garten mit drei schönen Mädchen, und jede hielt einen Blumenstrauss in der Hand. Die Mädchen fragten ihn, wie er hierher gekommen sei, und der Bursche erzählte alles: wie es ihm gegangen sei und auch dass jede Nacht jemand in den Saal komme, den er nicht erkennen könne. Er bat sie um Hilfe, aber sie erzählten, auch sie seien von zu Hause entführt worden.

In dem Augenblick schlossen sich die Läden, und der Bursche blieb im Dunkeln wie vorher. Nach kurzer Zeit öffneten sich die Läden nochmals, und als er aus dem Fenster schaute, sah er im Garten wieder die drei Mädchen mit den Blumensträussen. Diesmal gaben sie ihm einen Kerzenstummel und einige Streichhölzer und sagten, er solle schauen, wer ins Zimmer komme. Die Läden schlossen sich, und der Bursche war wieder allein im dunklen Saal.

Bald hörte er wieder jemanden hereinkommen, und er versteckte sich in einer Ecke. Dort zündete er schnell die Kerze an, die die Mädchen ihm gegeben hatten, und er sah, dass auch der Mann, der ihn in den Saal gesperrt hatte, hier geschlafen hatte. Leise löschte er die Kerze aus und blieb mäuschenstill.

Wenige Tage später öffneten sich die Läden zum dritten Mal, und er sah im Garten die Mädchen mit den Blumensträussen. Er erzählte ihnen, wer nachts im Saal schlafe und fragte sie, ob man diesen Mann nicht töten könne, um sich zu befreien. Doch die Mädchen sagten, man könne ihn nur umbringen, wenn man das Ei einer Elster auf seinem Kopf zerschlage. Als er merkte, dass die Mauer nicht so hoch war, sprang der Bursche aus dem Fenster und kletterte über den Gartenzaun. Die drei Mädchen riefen ihm noch hinterher, er solle sie nicht vergessen.

Der Bursche verirrte sich unterwegs in einem grossen Wald. Dort sah er einen Löwen. Er getraute sich nicht wegzurennen, sonst wäre ihm der Löwe hintennach gelaufen. So fasste er Mut und trat ihm entgegen. Da entdeckte er neben dem Löwen noch einen Hund, einen Hasen, eine Elster und eine Ameise. Die Tiere stritten sich, wer bei den Menschen am beliebtesten sei. Sie baten ihn, ihren Streit zu schlichten. Da bekam der Bursche Angst, denn wäre er für das eine Tier, so wären die andern dagegen. Darum gab er allen ein wenig recht, am meisten aber dem Löwen. Dies war den Tieren recht, und sie sagten ihm, wenn er in Not sei, könne er ihre Gestalt annehmen. Er müsse sagen: «Aus einem Mann ein ...» und den Namen des gewünschten Tieres beifügen.

Der Bursche ging weiter und kam in eine Stadt, wo er Arbeit bei einem Herrn fand. Der liess ihn seine Schafe hüten, befahl ihm aber streng, die Tiere nur bis zum Grat und nicht auf der andern Seite des Berges weiden zu lassen. Die Schafe aber gingen darüber hinaus, und er folgte ihnen.

Auf der andern Seite war eine schöne Ebene, und dort sah er unter einem Strauch ein Mädchen. Der Bursche ging zu ihr und fragte, was sie hier mache. Das Mädchen sagte, sie sei die Tochter eines Königs, der Drache habe sie geraubt. Und sie bat ihn wegzugehen, denn der Drache komme und fresse, wen er finde. Und in dem Augenblick rennt ein schrecklicher Drache rasend vor Wut über die weite Ebene daher. Der Bursche aber erinnert sich an die Macht, die der Löwe ihm gegeben hat, und sagt: «Aus einem Mann ein Löwe!» und da wird er ein Löwe. Er geht dem Drachen entgegen und besiegt ihn. Da für diesen Tag der Kampf vorbei ist, befiehlt der Löwe dem Drachen, die Königstochter bis zum andern Tag in Ruhe zu lassen und sagt dann: «Ich wollte, ich hätte Brot und Wein», und der Drache sagt: «Ich wollte, ich hätte Brot und Wasser!» Dann geht jeder davon.

Als der Drache weg ist, sagt der Löwe: «Aus einem Löwen ein Mann!» Und der Löwe verwandelt sich in den Burschen zurück, nimmt seine Schafe und geht nach Hause zu seinem Meister. Der wusste, dass sein Hirte auf der Ebene war. Er wusch ihm den Kopf und ermahnte ihn streng, nie mehr dort hinaufzugehen. Der Bursche versprach es, aber am nächsten Tag trieb er seine Schafe wieder zur Ebene hinauf. Diesmal sah er dort zwei Mädchen unter dem Strauch. Er fragte das andere Mädchen, wer sie sei. «Die andere Tochter des Königs, welche der Drache zusammen mit ihrer Schwester geraubt hat», antwortete sie.

Der Drache kommt wie am Tag zuvor, und der Bursche sagt: «Aus einem Mann ein Löwe!» Nach seiner Verwandlung in einen Löwen geht er dem Drachen entgegen, und sie kämpfen wieder heftig miteinander. An diesem Tag sind sie etwa gleich stark, und nach einem langen Kampf hören sie unentschieden auf. Zum zweiten Mal befiehlt der Löwe dem Drachen, die beiden Mädchen bis zum andern Tag in Ruhe zu lassen und sagt dann, er möchte Brot und Wein, und der Drache sagt, er wolle Brot und Wasser, und dann gehen beide fort.

Als der Drache weg war, sagte der Löwe: «Aus einem Löwen ein Mann!», und er wurde wieder in einen Menschen verwandelt. Am Abend nahm der Bursche seine Schafe und trieb sie in die Stadt. Wieder wurde der Herr wütend, weil er auf der Ebene war, und der Bursche versprach, dies nicht mehr zu tun. Aber am andern Morgen trieb er nochmals sehr früh die Schafe auf die Ebene, und diesmal sah er drei Mädchen unter dem Strauch. Der Bursche fragte das dritte Mädchen, wer sie sei. Das Mädchen antwortete: «Die dritte Tochter des Königs, die der Drache geraubt hat.» Als der Drache kommt, sagt er: «Aus einem Mann ein Löwe», und als Löwe beginnt er den Kampf mit dem Drachen. Sie kämpfen den ganzen Vormittag miteinander, doch keiner kann den andern besiegen. Dann geht der Löwe und nimmt Fleisch und Wein zum Mittagessen und der Drache Brot und Wasser. Am Nachmittag nehmen sie den Kampf wieder auf, und der Löwe reisst den Drachen in Stücke. Dann sagt der Löwe: «Aus einem Löwen ein Mann!» Als der Bursche seine Menschengestalt wieder hat, schlitzt er den Bauch des Drachen auf. Daraus springt ein Hase und flüchtet über die Ebene. Da kommt ihm die Macht in den Sinn, die der Hund ihm gegeben hat, und er sagt: «Aus einem Mann ein Hund!» Als Hund rennt er dem Hasen hinterher und zerreisst ihn. Dann sagt der Hund: «Aus einem Hund ein Mann!» Nachdem er wieder ein Mensch geworden ist, schlitzt er den Hasen auf. Daraus fliegt eine Elster. Der Bursche erinnert sich an die Macht, die ihm die Elster gegeben hat, und er sagt: «Aus einem Mann eine Elster!» Als Elster fliegt er der andern nach und tötet sie. Jetzt sagt die Elster wieder: «Aus der Elster ein Mann!» und der Bursche ist wieder ein Mensch. Er schlitzt die Elster auf und findet darin ein Ei.

Glücklich machte er sich auf den Weg zum Schloss, wo der Mann ihn und die drei Mädchen eingesperrt hatte. Jetzt besass er ja das Ei, um den Mann zu töten. Aber als er zum Schloss am Meer kam, waren alle Türen und die Fensterläden geschlossen. Da dachte er an die Ameise und an die Macht, die sie ihm gegeben hatte. Schnell sagte er: «Aus einem Mann eine Ameise!» Als Ameise kroch er durchs Schlüsselloch, öffnete das Schlosstor und versteckte sich bis Mitternacht im Gang. Dann nahm er das Elsternei, ging leise in den dunklen Saal, zündete dort ein Streichholz an und zerschlug das Elsternei auf dem Kopf des Mannes. Der war mit einem Mal mausetot.

Als es Tag wurde, ging er in den Garten, und dort fand er die drei Mädchen. Da merkte er, dass es die gleichen waren wie unter dem Strauch auf der Ebene. Weil er sie mit seinem Mut befreit hatte, sagten die Prinzessinnen dem Burschen, er könne die heiraten, welche er wolle. Er nahm die Jüngste, und sie machten eine prächtige Hochzeit. Ich habe die Suppe aufgetischt, und man hat mir so einen Tritt in den Arsch gegeben, dass ich bis hierher geflogen bin.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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