Das Rücken der Kühe

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Sturm und plötzlicher Schneefall auf den Alpenweiden, auch die Nähe wilder Thiere, oder Schwärme von stechenden Insekten machen manchmal eine Kuhheerde auf der Alpe so verwirrt und wild, dass sie die Flucht ergreift und, ohne auf das Locken und Rufen des Hirten mehr zu hören, über die Felswände hinab in den Tod stürzt. Dies nennt man das Rücken der Kühe. Insofern sie zuweilen dabei auf eine unbegreifliche Weise doch erhalten bleiben und wieder aufgefunden werden, ist der Glaube an die Macht behütender Berggeister ein nahe liegender.

Nachfolgende Erzählung aus dem Berner-Oberlande stellt dies dar; in ihrer gegenwärtigen Fassung stammt sie aus Münchenbuchsee aus dem Munde eines jungen Schullehrers, sie weicht von derjenigen ab, welche J. R. Wyss, Schweiz. Idyllen 2, 329 gegeben hat, der zugleich auf die mehrfachen Spielarten hinweist (pag. 414), die darüber bestehen.

Der Hirte Oswald zu Jntramen im Grindelwaldthale wollte am kommenden Morgen seine Alpe einen Tag lang verlassen, um seine Leute drunten im Thale zu besuchen, und hatte sich mit aller Vorarbeit für sein Vieh so übermüdet, dass er heute vor der Zeit mit einemmale einschlief, ohne vorher den Abendsegen gesprochen zu haben. Dies geschieht mit singender Stimme durch einen vor den Mund gehaltenen grossen Milchtrichter, Volle genannt, und es zu unterlassen ist nicht allein unchristlich, sondern bringt im Gebirge auch mancherlei Schaden. Es dient statt des Schalls der Abendglocke, die in diesen Höhen fehlt, es begrüsst die andern Sennen auf den benachbarten Alpen und hilft besonders den verstiegenen Wanderern und verlaufenen Thieren, die dann bei einbrechender Nacht die verfehlte Richtung wieder gewinnen können.

Schon nach etlichen Stunden ward Oswald durch das laute Brüllen seines Viehes wieder aus dem Schlafe geweckt und sah im Mondscheine, wie ein Hirtenmännlein die Heerde mit lautem Ruf zusammenlockte, dem nächsten Felsenborde zutrieb und da sammt ihr am letzten Rande verschwand. Die Kühe waren fort und Oswald hatte das Nachsehen. Tagelang durchkletterte er nun alle Schluchten der Alp, rief, pfiff und lockte, aber nicht eine Spur mehr war aufzufinden. Sieben Häupter waren so auf einmal verloren, es wollte ihm das Herz vor Jammer zerspringen. Aber er lernte sich bemeistern, und ein alter Glaube sagte ihm, es sei das Beste, nun so zu thun, als wäre nichts verloren. Alle Tage gieng er daher wieder zu seinem leeren Stall hinauf und hantierte da herum, als ob die sieben Stücke noch immer siebenfache Melktern Milch ergäben. Er zettete den Mist mit der Gabel und gab frische Streue, er schnallte den Melkstuhl an und setzte sich gegen den leeren Baren, er pfiff und redete wie sonst beim Melken jeder Kuh freundlich zu, nannte sie beim Namen, reichte die Tränke und lockte, als wollte er sie wieder auf die Weide hinausbringen. So trieb er seine unergiebige Wirtschaft fort und wurde dabei geduldiger, frommer und arbeitsamer als je vorher. Es kam der Winter, und auch da gieng er die übereisten Stege zur leeren Hütte hinauf. Alles wüste Reden, mit dem sich das Sennenvolk die mühselige Arbeit zu erleichtern sucht, hatte er sich abgewöhnt, und nur einmal noch, da er auf der abschüssigen Halde ausglitschte und einen harten Fall that, war ihm ein halber Fluch zwischen die Zähne gekommen.

Nun ward es wiederum Mai, wieder stieg Oswald den alten Weg; und als er den frischen Jahressegen betrachtete, wie so schön ringsum das junge Gras auf der Weide zu wachsen begann, wurde ihm recht traurig und weh. Mit schweren Gedanken näherte er sich jener Unglücksstelle, wo ihm seine schönste Habe in den Abgrund gestürzt war. Aber da sah er plötzlich sieben Kühe zur Weide herein ziehen und sieben prächtige Kälber liefen ihnen zur Seite, jegliches kugelrund und feisst, dass es vor Lust mit den Vorderfüssen bockte und mit den Hinterfüssen ausschlug. Das waren seine sieben Kühe mit schimmerndem Fell, alle zugleich mit frischen Kalben. Auch das Hirtenmännlein fehlte nicht; es hatte ein Lecktäschlein über die Schulter geschnallt und ein Rüthlein in der Hand. Während es so hertrieb, legte es einen Finger, wie zum Zeichen des Stillschweigens, auf seine Lippen und deutete mit der Gerte auf das Euter der vordersten Kuh. Jetzt erkannte Oswald, wie mild diesmal der liebe Gott seine Verzagtheit hatte büssen wollen. Strotzend und voll war das Euter der Leitkuh, aber eine von den vier Melkzitzen fehlte daran; das allein und nicht mehr hatte er zur Strafe für seinen unbesonnenen Fluch.

Band 1, Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856, Seite 323
Zwergensagen aus anderen Schweizerkantonen

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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