Der Drache im God Nair

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal in Pontresina ein reicher Kaufmann, der hatte einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn namens Ludovic war 18 Jahre alt; die Tochter, Luisa, ein schönes Mädchen mit prächtigen blonden Haaren, war 16.

Eines Abends nach dem Essen, als noch alle am Tisch sassen, sagte der Vater: «Ich habe Lust, morgen zu verreisen und übermorgen auf den Markt in Chiavenna zu gehen, vielleicht kann ich wieder wie das letzte Mal ein gutes Geschäft machen. Wünscht euch jeder etwas, und wenn ihr nicht zu sehr über die Schnur haut, so werdet ihr es bekommen.» Er schaute auf Ludovic und fragte: «Was wünscht sich denn mein Sohn?» - «Oh», rief der mit glänzenden Augen, «lieber Vater, kauf mir einen schönen Schimmel, damit ich reiten kann!» - «Da haben wir’s - was das wieder für eine Idee ist! Glaubst du, dass Goldstücke wie Mücken herumfliegen, du verflixter Kerl, du willst immer alles haben! Und du, Luisa, was wünschst du dir?» - «Ich hätte am liebsten einen schönen blühenden Rosenstock», antwortete sie, «aber einen mit roten Rosen.»

Am andern Tag reiste der Kaufmann zur vorgesehenen Stunde ab und blieb etwa vierzehn Tage lang fort. Da, eines Abends, als sie vor dem Haustor auf dem Bänklein sitzen, beginnt auf einmal Ludovic, der die Dorfstrasse hinauf blickt, laut zu schreien: «Oh, der Vater mit dem Schimmel!» und in zwei Sätzen ist er drüben beim Vater, der vom Pferd steigt und sagt: «Hier, mein Sohn, hier hast du den gewünschten Schimmel. Schau, dass du ihn gut hältst, denn eines Tages wird er dir einen grossen Dienst erweisen.» Ludovic umarmte den Vater und dankte ihm von ganzem Herzen. Sofort ergriff er den Zaum, ging mit seinem Schimmel in den Stall und richtete ihm ein schönes Strohlager her. Aber auch Luisa freute sich fest über das Geschenk des Vaters, denn der Rosenstock trug bereits zwei schöne rote Blüten und zwei Knospen. Der Vater sagte nun zu Luisa: «Liebe Tochter, du musst wissen, dieser Rosenstock ist ein ganz besonderer; er kündigt die traurigen und frohen Tage bei uns im Voraus an. Wenn irgendetwas Trauriges in unserer Familie geschehen wird, so verliert die Rose ihre schöne dunkle Farbe und wird blass und welk, und wenn jemand sterben sollte, so wird sie weiss und fällt gleich ab.»

Ludovic ritt jetzt Tag für Tag mit seinem schönen Schimmel aus und konnte das Pferd nicht genug loben. Aber alles auf dieser Welt nimmt einmal ein Ende. Eines Tages sagte der Kaufmann zu seinem Sohn: «Es freut mich, dass du einen solchen Gefallen an deinem Pferd hast, aber ich muss dir sagen, dass du dich bald für eine Weile von ihm wirst trennen müssen. Du bist jetzt ein junger Mann, und ich glaube, dass du in der Lage bist, unser Geschäft in Pavia zu übernehmen, denn du hattest Gelegenheit, von mir den Handel zu erlernen.» Ludovic bekam nasse Augen, und nur schon der Gedanke, die Seinen und seine liebe Heimat verlassen zu müssen, bedrückte ihn, doch er erwiderte gleich: «Ja, ja, ich bin einverstanden, in die Fremde zu gehen, ich will schauen, dass ich unserem Geschäft nützlich sein kann. Wann muss ich abreisen?» - «So bald als möglich», sagte der Vater, «das Wetter ist ausgezeichnet. In zwei Tagen kannst du aufbrechen.»

Der Koffer war bald gepackt, und am festgesetzten Tag nahm Ludovic schweren Herzens Abschied von den Seinen. Die Mutter war die ersten Tage sehr traurig, und auch Luisa vergoss viele Tränen wegen ihres Bruders, aber der Vater tröstete sie jeweils und sagte: «Schaut den Rosenbusch! Rosen und Knospen haben eine wunderschöne Farbe.» Nach kurzer Zeit kam ein Brief von Ludovic, und alle im Haus freuten sich sehr, als sie erfuhren, dass er frisch und gesund in Pavia angekommen war und dass es ihm dort gut gefiel.

Eines Tages, als die Mutter die Vorratskammer aufräumte, sah sie bei den Konfitürentöpfen, dass auf den Winter noch ein wenig Konfitüre nötig war. Darum sagte sie eines Nachmittags zu Luisa: «Wir wollen heute Preiselbeeren suchen; nimm deinen Korb, komm, wir gehen.» Auch der Vater war damit einverstanden, und er wollte sie begleiten. So machten sie sich auf den Weg Richtung Stazerwald, neben dem God Nair. Dort wimmelte es von Preiselbeeren, und je tiefer in den Wald hinein sie kamen, desto dicker waren die Preiselbeeren, so dass die Körbe immer schwerer wurden. Da Luisa ganz eifrig sammelte, drang sie immer weiter vor, ohne auf Vater und Mutter zu achten. Der Vater begann nun, nachdem er einige Male laut und voller Angst nach ihr gerufen hatte, den Wald zu durchsuchen - aber es war alles vergeblich! Als Antwort kam nur der Pfiff des Murmeltiers oder der Ruf des Tannenhähers zurück. Ihre Angst wurde immer grösser, und in der Verzweiflung sagte der Vater zur Mutter: «O wir Unglücklichen, o wir Unglücklichen! Unsere Tochter ist in die Nähe des Baumes von Plaun Verd geraten, und der Drache wird sie mitgenommen haben.» Nun liefen sie so rasch als möglich ins Dorf zurück und erzählten den traurigen Vorfall. Ihre Nachbarin begann zu weinen und sagte: «Oh, nur allzu wahr ist das, auch Luisa wird dort sein, wo seit einem Jahr unsere geliebte Tochter Maria ist, die wollte leider auch um diese Zeit Preiselbeeren suchen!» - Nun begannen die Sturmglocken zu läuten, und einige Einwohner gingen mit Pickeln, Mistgabeln, Gewehren und andern Waffen in den Wald. Dort verteilten sie sich überall und riefen, pfiffen und schrien; aber gefunden haben sie nichts. - Ihr könnt euch denken, wie gross der Kummer von Luisas Eltern war, als sie erfuhren, dass all diese Männer keine Spur von ihrer Tochter gefunden hatten! Die Mutter wollte nichts anderes glauben, als dass sie tot sei; aber der Vater holte den Rosenstock und sagte: «Unsere Luisa ist nicht tot, die Rosen sind wohl blass und ein wenig welk, doch abgefallen sind sie nicht.» Das war ein Trost für die Mutter, aber ein schwacher. Schweren Herzens schrieb der Vater seinem Sohn von diesem traurigen Ereignis, und Ludovics Kummer war gross.

Fast zwei Jahre waren vergangen, doch obwohl in dieser Zeit nach Luisa gesucht und gesucht wurde - sie war noch nicht aufgetaucht. Da bekommen die Eltern eines Tages einen Brief von Ludovic, worin er ihnen schreibt, er habe einen eigenartigen Traum gehabt, der seine Gedanken Tag und Nacht beschäftige. Er könne nicht mehr in der Fremde bleiben, und er rechne damit, in zwei Tagen heimzureisen. Wie gross war nun die Überraschung und Freude der Eltern, nach langer und schwerer Trennung ihren Sohn wieder zu sehen. Und - tatsächlich - eines schönen Tages kam er an. Fast hätten sie ihn nicht mehr erkannt, so gross und schön war er geworden. Obwohl er von der langen Reise müde war, erzählte er bis spät in die Nacht hinein von all dem, was er in der Fremde erlebt hatte. Am andern Morgen sprach Ludovic, kaum war er aufgestanden: «Jetzt gehe ich das Pferd satteln und reite in den Wald, denn wisst: Ich will unsere arme Luisa suchen!» Diese Worte durchbohrten das Herz der Mutter wie ein Pfeil, und der Vater ermahnte Ludovic: «Wie, du willst dich einer so grossen Gefahr aussetzen? Willst du etwa auch umkommen? Ist es nicht genug, dass wir ein Kind verloren haben. Doch Ludovic antwortete: «Ich bin so fest entschlossen, dass niemand mich umstimmen kann. Verliert den Mut nicht, vielleicht habe ich das Glück, unsere Luisa zu finden.» Alles Weinen von Vater und Mutter half nichts; Ludovic nahm Abschied und ging.

Und alle Gegenden, durch die er ritt, hatte er im Traum gesehen. Je weiter er in den Wald eindrang, umso dichter wurde der, so dass sein Pferd sich mit Mühe und Not durch dieses Gewirr von Ästen, Steinen, Rinde und Zweigen durchzwängen konnte. Da standen viele wilde Rosenbüsche und Disteln, und die Zweige der Bäume berührten einander, so dass bald der Reiter, bald das Pferd sich kopfvoran darin verfing. Immer unheimlicher wurde nun der Wald. Das Pferd schwitzte so, dass es voller Schaum war; aber es schritt dennoch vorwärts, gelenkt von Ludovics fester Hand. Das Pferd macht eben einen Schritt, da ertönt - ganz unvermittelt - ein so fürchterlicher Knall, dass die Erde bebt und das Pferd sich hoch aufbäumt. In dem Augenblick spaltet sich ein Baumstrunk, daraus springt ein purpurrot gekleideter Mann und packt das Pferd am Zaum, so dass es stillsteht. Dieser Mann war verzaubert und sagte nun zu Ludovic, der vor Schreck mehr tot als lebendig war: «Glücklicher Mann, sei still! Dein Pferd hat beim letzten Schritt seinen Huf auf die Königin der Blumen in diesem Wald gesetzt, auf die Rose am grossen Busch hier vor dir. Jener Mensch oder jenes Tier, dem es gelingt, eine dieser Rosen zu zertreten, wenn der Mond mit den Spitzen aufwärts zeigt, hat das grosse Glück, die Verwünschung von diesem Wald zu nehmen. Geh du jetzt nur ohne Furcht weiter - der Drache ist schon jetzt halb tot, der wird dir nicht mehr grosse Schwierigkeiten machen.» - «Und meine Schwester Luisa, wo ist meine Schwester? Ist sie noch am Leben?», fragte nun Ludovic.

Der rote Mann antwortete: «Hör ganz genau zu, was ich dir sage, und mache Wort für Wort das, was ich dir sage, dann wird es dir gut gehen - dir und mir. Es wird zu dämmern beginnen; wenn du zuäusserst an den Wald gelangst, dann öffnet sich das Tal, und du wirst eine schöne Ebene sehen, mittendrin steht ein grosses von einer Mauer umschlossenes Gebäude. Ein eisernes Tor riegelt es ab, aber es wird offen sein, und du wirst in einen grossen Hof gelangen. Mittendrin steht das Haus und unweit davon ein grosser steinerner Brunnen. Wenn du im Hof bist, steigst du vom Pferd; auf der linken Seite des Hauses wirst du an der Mauer zwei Ringe sehen: Bind an einem das Pferd fest und geh durch das Haustor und dann in die Stube rechts. Du bist, wie mir scheint, ein mutiger und kluger Bursche, und so brauche ich dir nicht mehr viel zu sagen. Du tust einfach, wie wenn du Herr in jenem Hause wärst. Die Bewohner sind alle stumm. Am andern Tag, nach dem Morgenessen, gehst du hinaus in den Garten; dort findest du ein schlecht bepflanztes Beet, das wie ein Grab aussieht. Dann nimmst du diese Rolle, die ich dir hier gebe. Wenn du sie aufwickelst, so wird sie immer grösser, und zuletzt kommt ein grosser Stock heraus. Du stehst unter die Gartentür und schlägst dreimal mit dem Stock auf das Beet; der Stock wird zerbrechen, und du fliehst. Wenn du machst, was ich dir befohlen habe, so werden wir alle zusammen gerettet sein; denn wisse: auch ich bin verzaubert. Ich hatte das Unglück, auf der Jagd in dieses Tal zu geraten, und im God Nair bin ich verzaubert worden. Mein Name ist Mattias Silvester - ich bin aus dem Fextal. Aber geh nun sofort, ich muss in meinen Baumstrunk hinein.» - Ludovic gab dem Schimmel die Sporen und ritt weiter. Aber es war eine schwere und mühevolle Reise, und es begann schon dunkel zu werden. Obwohl Ludovic ein mutiger Bursche war, bekam er eine Hühnerhaut. Da schien es ihm auf einmal, der Wald werde lichter, und nach einer kurzen Strecke öffnete sich das Tal. Obwohl es schon dunkelte, konnte er ein grosses Gebäude unterscheiden, und kurz darauf befand er sich vor einem prunkvollen Portal, auf dessen Stützen zwei grosse Marmorlöwen standen. Er geht durch das Tor und gelangt in einen grossen Hof, mittendurch fuhrt ein schöner Weg zum Hause hin. Links steht ein grosser steinerner Brunnen.

Ludovic stieg vom Pferd, brachte es zum Brunnen und liess es trinken. Dann band er das Pferd an einen Ring in der Mauer, und als er sah, dass seine Kleider voll Reisig waren, machte er sich so gut als möglich sauber und trat durchs Haustor. Beim Anblick des grossen und schönen Gangs mit Steinboden und Ölbildern an den Wänden dachte er: «Das scheint mir ein Haus hoher Herrschaften zu sein - wo soll ich bloss hingehen?» Dann fiel ihm ein, an die Tür der Stube rechts zu klopfen, aber da konnte er dreimal klopfen - niemand gab Antwort. Jetzt öffnete er die Tür, und was sah er? Eine prächtige Stube mit Stühlen und Sofa, mit rotem Damast bezogen, an der Wand einen Spiegel in einem grossen Goldrahmen. Ein wunderschöner Leuchter mit fünfzig Kerzen in Ständern aus rosa Kristall hing an der Stubendecke und verbreitete in der ganzen Stube ein prachtvolles Licht. Links führte eine Tür in ein anderes Zimmer. Mitten in der Stube war auf einem runden Tisch für drei Personen gedeckt, Teller aus feinstem Porzellan, massives Silbergeschirr und eine Vase mit Blumen. Kaum war Ludovic im Zimmer, da öffnete sich die Tür, und herein traten zwei schwarz gekleidete Damen mit Seidenschleiern von Kopf bis Fuss. Ludovic machte eine grosse Verbeugung; sie verneigten sich wortlos zu ihm hin und setzten sich an den Tisch. In dem Augenblick öffnet sich die Stubentür, ein Diener kommt herein und stellt die Suppenschüssel auf den Tisch. Mit einer Verbeugung geht er wieder hinaus. Die Damen lüfteten ihre Schleier nur so weit, dass sie essen konnten. Das Abendessen dauerte lange, denn es wurden endlos Gerichte, Gebäck und gute Weine aufgetragen. Nachdem der Kaffee serviert war, erhoben sich die Damen, verneigten sich zu Ludovic hin und gingen ohne einen Mucks in ihr Zimmer. «Das da scheint mir eine merkwürdige stille Gesellschaft zu sein», dachte Ludovic, stand auf und ging auch hinaus.

Im Gang wartete der Diener mit einer Laterne; Ludovic gab ihm zu verstehen, er möchte sein Pferd sehen, und der Diener begleitete ihn in den Stall, wo sein Schimmel an einer Krippe neben zwei andern prächtigen schwarzen Pferden angebunden war. Dann gingen sie in den zweiten Stock hinauf, und der Diener führte Ludovic in ein wunderschönes Schlafzimmer. Er legte sich müde von der langen Reise und der Anstrengung ins Bett und schlief bald ein. Da - punkt zehn gab es ein so starkes Beben, dass Ludovic mit grossem Schreck aus dem Schlaf auffuhr. Aber da er weder etwas sah noch hörte, dachte er, er werde wohl tief geschlafen und geträumt haben, und nachdem er sich auf die andere Seite gedreht hatte, schlief er bald wieder ein. Sein Schlaf dauerte allerdings nicht lange. Punkt elf rüttelte es noch stärker, so dass er im Bett kerzengerade aufgerichtet wurde. «Das ist doch eine seltsame Sache», dachte er jetzt, doch zum Glück ging es nicht so lange, und so schlief er recht bald wieder ein. Aber das Schlimmste kam erst jetzt! Schlag Mitternacht begann die Erde zu beben, Ludovics Bett schwankte hin und her wie eine Wiege, und ein Beben gab es - ein so schreckliches, dass Ludovic davon aus dem Bett gehoben wurde und in voller Länge am Boden unten lag. Wie auch immer - an Schlaf war nicht mehr zu denken, trotzdem stieg er wieder ins Bett und konnte von jetzt an ruhig sein, denn eine Stunde nach der andern verging, ohne dass der geringste Lärm zu hören war.

Um sechs morgens stand er auf, zog sich an und ging in den Stall hinunter zu seinem Schimmel. Der war schon gestriegelt und glänzte wie ein Spiegel. Nun machte Ludovic noch einen Spaziergang ums Haus herum, und er konnte sich an jenem schönen Gebäude, den schönen Statuen und dem Wasserfall mitten im Garten nicht satt sehen. Er kehrte wieder ins Haus zurück, und als er die Stubentür öffnete, sah er, dass für drei Personen gedeckt war. Es standen grüne Porzellantassen mit Goldmuster auf dem Tisch, und auf den Tellern lagen Eierbrötchen, Blätterkuchen, Birnbrotschnitten, Stollen, Mailänderli und Schildbrote aus Casaccia. Ludovic setzte sich an den Tisch, und die zwei Damen mit den Schleiern kamen zur Tür herein, machten ihre Verbeugungen und setzten sich zu ihm hin. Doch Ludovic konnte beobachten, dass beide kaum assen und bald seufzte die eine, bald die andere tief. Auch diesmal entfernten sie sich wortlos.

«Jetzt», dachte Ludovic, «jetzt ist der Augenblick da, wo ich in den Garten muss - eine schwere Arbeit erwartet mich - der Drache wird mich in seine Klauen kriegen wollen.» Doch im selben Augenblick fiel ihm der rote Mann ein, und furchtlos ging er zur Gartentür. Er nahm aus der Tasche die Rolle; die wurde immer länger und schwerer; doch Ludovic nahm all seine Kräfte zusammen und gab mit dem Stock drei starke Schläge auf das Beet. Der Stock zerbrach, und Ludovic rannte gegen das Haus, denn in dem Augenblick gab es einen fürchterlichen Knall, und ein gelber Rauch erfüllte die Luft mit beissendem Gestank. Ludovic ging zum Beet, und was sah er da? Der Drache, der über Nacht unter diesem Beet gewesen war, lag da, durch die Schläge mit dem Zauberstock in tausend Stücke zerfetzt.

Jetzt will Ludovic ins Haus rennen, um die Leute zu rufen, aber da legen sich auf einmal zwei Arme um seinen Hals, und seine Schwester Luisa ruft: «O mein lieber Bruder, kennst du mich nicht? Ich bin deine Schwester Luisa - was machen Vater und Mutter? Leben sie noch?» Da antwortet Ludovic voller Freude: «Ja, ja, sie sind gesund und munter, und ich hoffe, dass wir sie bald sehen. Das wird eine Freude sein, wenn wir heut Abend nach Hause kommen.» Als er sich umdrehte, sah er Luisas Freundin, seine Nachbarin Maria, die vor drei Jahren beim Preiselbeersuchen verschwunden war. Nun kamen Knechte und Mägde Herbei, die alle verzaubert und stumm gewesen waren, und alle konnten wieder reden. Sie dankten Ludovic, ihrem Erlöser, von ganzem Herzen. Doch der sagte zu Luisa und Maria: «Macht euch bereit, wir wollen uns so rasch als möglich auf den Heimweg machen.» Da hielten es die beiden Mädchen vor Freude kaum mehr aus in ihrer Haut, und augenblicklich waren sie reisefertig. Der Knecht schirrte jetzt den Schimmel an. Da hörten sie auf einmal ein paar Jauchzer, und vor ihnen erschien ein schöner Jüngling, als Jäger gekleidet und das Gewehr geschultert. Das war Mattias Silvester, der ebenfalls erlöst worden war. Nun setzten sich alle vier auf den Wagen, und mit Freudenjauchzern machten sie sich auf den Weg nach Pontresina.

Ihr könnt euch vorstellen, wie die Eltern sich freuten, als die Gesellschaft noch an jenem Abend nach Hause kam. Kummer und Leid waren vorbei, und die Freude des Wiedersehens liess das ganze schwere Unglück von früher vergessen. Schon am andern Tag gingen Ludovic und sein Vater in den God Nair, um den prächtigen Palast des Drachens, der jetzt ihnen gehörte, anzuschauen. Ein paar Tage später wurde darin ein grosses Fest gefeiert. Alle waren zufrieden, dass der Drache getötet worden war, die Fränzlis spielten, Jung und Alt tanzte, und die Freude dauerte bis am Morgen früh, und - ich glaube, sie sind noch immer dort!

(Oberengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.  Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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