Das Ringbrot

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten einen kleinen Buben. Der hütete jeden Tag die Ziegen und die Schafe, und die Mutter gab ihm immer ein Ringbrot zum Morgenessen mit. Eines schönen Tages ging er wieder mit seiner Herde, und als er Hunger hatte, setzte er sich auf einen Felsen und nahm sein Ringbrot hervor. Aber – ich weiss nicht wie – das Ringbrot fiel ihm aus der Hand und rollte bergab. Der Bub rannte ihm nach, aber es rollte immer schneller, so dass der Kleine ihm fast nicht nachkam. Auf einmal verschwand das Ringbrot in der Erde, eine kleine Treppe hinunter. Der Bub sah es die Stufen hinunterpurzeln und sprang hinterher. Aber das Ringbrot raste über mehrere Treppen immer weiter nach unten. Die letzte Treppe führte in eine wunderschöne Stube. Mit grossem Entsetzen sah der kleine Bub in dieser Stube drei alte, schrecklich hässliche Weiber mit fürchterlich langen Riesenzähnen. Er blieb auf dem untersten Treppenabsatz stehen, und vor Furcht wagte er weder zu fliehen noch weiterzugehen. Er wusste ganz genau, dass das Ringbrot ihn an einen verzauberten Ort gebracht hatte und dass jene drei Weiber Hexen waren. Jetzt rief die Älteste und Hässlichste zu ihm hinauf: «Was willst du hier bei uns?» Der kleine Bub antwortete zitternd: «Ich möchte mein Ringbrot wieder haben.» - «Wirf deine Kappe herunter, so gebe ich dir das Ringbrot.» Der Kleine tat dies, doch die Alte schrie: «Wirf nun deinen Kittel herunter», und so musste er den Alten auch die Hosen, die Strümpfe und das Hemd hergeben, bis er nackt wie ein geschorenes Schaf dastand. «Komm du jetzt auch herunter!» hörte er es jetzt treppauf rufen. Er dachte: «Was will ich machen?» So entschloss er sich, zu den Alten hinunterzusteigen. - «Da du hierher gekommen bist, musst du auch hier bleiben», befahlen jetzt die Alten. Sie nahmen den armen Kleinen, der weinte und nach Vater und Mutter schrie, und setzten ihn in einen Hennenkäfig. Zu essen und zu trinken gaben sie ihm mehr als genug und nur vom Besten, so dass er keinen Hunger leiden musste und von Tag zu Tag fetter und runder wurde. Das hätte ihm nicht so schlecht gefallen, doch etwas anderes war weit weniger angenehm. Die hässlichste der drei Hexen steckte jeden Tag ihren scheusslichen Kopf in den Käfig und befahl: «Lies mir die Läuse ab!» - So musste der kleine Bub jeden Tag die Alte lausen, und das war nicht etwa eine kleine Arbeit, denn ihre Mähne war voller Läuse. Das ging so eine gute Weile. Der Kleine hatte Heimweh nach seinen Eltern, aber da war nichts zu machen. Die Hexen liessen ihn nicht aus dem Käfig.

Eines Tages, als zwei Hexen weggegangen waren, steckte die Alte wieder ihren riesigen Kopf in den Käfig und sagte: «Jetzt wirst du mir zum letzten Mal die Läuse ablesen, denn heute schlachten wir dich.» - Da bekam der kleine Bub eine schreckliche Angst, besonders als er sah, dass die Alten schon den grossen Kessel übers Feuer gehängt hatten. Doch im selben Augenblick fiel ihm ein, dass er ein Messer in der Tasche hatte. Während die Alte ihm den Kopf hinhielt und darauf wartete, dass er die Läuse ablas, zog der kleine Bub sein Messer hervor, packte sie an den Haaren und schnitt ihr den Riesenkopf ab. Nun war die Alte mausetot. Der Kleine sprang aus dem Käfig, nahm die Leiche der Alten und warf sie in den Kessel, der was das Zeug hielt, kochte. Doch jetzt wartete er nicht mehr lange; er rannte die Treppe hoch und so rasch wie möglich nach Hause.

Unterdessen waren die andern zwei Hexen zurückgekommen, und als sie sahen, dass der Kessel voll Fleisch war, glaubten sie nichts anderes, als dass die Alte den Kleinen geschlachtet hatte. So begannen sie, jenes Fleisch zu fressen.

Zu Hause erzählte der Kleine seinen Eltern, wie es ihm gegangen war. Da sagte der Vater: «Diese Schurkinnen wollen wir doch kriegen!» Er ging zu allen Nachbarn, und jene kamen sogleich mit Gabeln und Gewehren herbei. Der kleine Bub zeigte ihnen den Weg, und so gelangten sie hinunter in die Stube der Hexen. Mit wenig Mühe banden sie diese fest, schleiften sie die Treppe hoch und kurze Zeit später wurden beide verbrannt. Der kleine Bub ging wieder die Ziegen und die Schafe hüten und ass jeden Tag sein Ringbrot mit der gleichen Freude wie zuvor - und das Märchen ist zu Ende.

(Oberengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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