Der schöne Gian

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Ein Vater hatte drei Söhne. Und eines Tages sprach er zu denen: «Hört, ihr seid nun im Heiratsalter, geht ein wenig in der Welt herum, und wenn ihr eine Braut gefunden habt, so kommt und sagt es mir, doch vergesst nicht, mir als Geschenk etwas von eurer Braut zu bringen.» Und die Söhne nahmen den Weg unter die Füsse, und als sie ein rechtes Stück im Wald drin waren, sagten die zwei Älteren: «Auf welche Seite willst du jetzt gehen, Gian?» – «Aber was ist das für eine Frage», meinte Gian, «ich gehe doch wohin ihr geht, denn ihr kennt die Wege besser als ich, da ihr ja weit in der Welt herumgekommen seid.» Aber die andern Brüder erwiderten: «Da irrst du dich bös, wenn du meinst, dass wir dich auch mitnehmen. Geh du den Weg, den du willst, wir machen, was wir wollen.» Sie hatten nämlich den armen Gian auf dem Strich, weil er der Schönste von allen und der Liebling des Vaters war. «Wenn dem so ist», sagte Gian, «so werde ich auf diese Seite gehen», und die Brüder waren sehr zufrieden mit seiner Wahl, denn sie wussten, dass das der schlechtere Weg war. Und der schöne Gian ging und ging in den Wald hinein, doch bald war keine Spur mehr von Pfad. Je weiter Gian drinnen war, umso dichter wurde der Wald, und am Ende war es ein solches Dickicht, dass er nicht mehr weiter konnte. Da setzte er sich auf einen Baumstrunk und begann zu weinen. Auf einmal hörte er Äste knacken, und jemand sagte: «Guten Tag, schöner Gian, was tust du hier, und warum weinst du?» Gian blickte auf, und was sah er? Ein Füchslein stand vor ihm. «Wenn du meinst, dass ich mich herablasse, mit einem hässlichen, räudigen Füchslein, wie du es bist, zu reden, so täuschst du dich», antwortete ihm Gian. «Ja nun», sagte das Füchslein, «wenn du nicht sagen willst, was dir fehlt, so kann ich es dir sagen. Dein Vater hat dich und deine beiden Brüder geheissen, eine Braut zu suchen, doch deine Brüder haben dich in den Wald hineingeschickt in der Hoffnung, dass du dich verirrst, und jetzt bist du hierher gelangt und kannst nicht mehr weiter. Doch komm du nur mit mir, ich führe dich zu meiner Wohnung hier unter den Ästen. Ich habe viel Land und Arbeiter, und du kannst jene ein wenig beaufsichtigen und wirst es gut haben, das kann ich dir sagen!» - «Nein und abermals nein», gab Gian zurück, «bist du wirklich so verrückt und glaubst, dass ich mit einem hässlichen räudigen Füchslein, wie du es bist, zusammenwohnen will?» - «Ja nun», meinte das Füchslein, «wenn du also nicht mit mir kommen willst, so bleib nur hier; doch das sage ich dir, du wirst den Weg nicht mehr finden und wirst hier umkommen.» - «Ja nun», entgegnete Gian, «wenn dem so ist, so werde ich mit dir gehen; doch was muss ich tun, um unter diese Äste zu kriechen?» - «Du musst überhaupt nicht kriechen, du musst mich nur am Schwanz halten, und ich führe dich zu meiner Wohnung hinunter», antwortete der Fuchs. «Ich mich am Schwanz eines so unheimlichen Füchsleins wie du halten», rief Gian, «nie und nimmer!» - «Ja nun», sagte das Füchslein, «wenn du wirklich nicht willst, so lass es gut sein und bleibe, wo du bist, doch ich sage dir noch einmal: Wenn du mit mir kommst, wirst du es nicht bereuen müssen.»

Wegen seiner ungemütlichen Lage war Gian am Ende doch bereit, mit ihm zu gehen. Durch die Äste hindurch ging es in grosser Eile, und bald standen sie beim schönen Häuslein des Füchsleins inmitten von Wiesen und Wald. Sie traten ein, und das Füchslein bewirtete ihn mit dem Besten, was es hatte, und er blieb eine gute Weile dort. Aber schliesslich sagte er eines Tages. «Ich muss allmählich doch daran denken, nach Hause zu gehen, denn mein Vater wird sich Sorgen um mich machen.» - «Ja, aber weisst du, dein Vater hat gesagt dass du mit einer Braut zurückkehren und ihm ein Geschenk bringen musst. Nimm mich, und ich sage dir, du wirst es nicht bereuen.» - «Nein, das tu ich auf keinen Fall, denk dir, was mein Vater und meine Brüder sagen würden, wenn sie wüssten, dass ich mit einem Füchslein verlobt bin», meinte Gian. Doch das Füchslein wollte nicht damit aufhören, und am Ende willigte er ein, es zu heiraten. «Gut», sagte das Füchslein und reichte ihm ein Kästchen, «hier drin ist das Geschenk für deinen Vater, doch du darfst es nicht öffnen, bis du zu Hause bei den Deinen in der Stube bist.» Und Gian machte sich auf den Weg und gelangte allmählich nach Hause. Die Brüder waren schon dort, der Vater war in Sorge um ihn gewesen und freute sich sehr, als er seinen Gian gesund und munter auftauchen sah, und als er gar sagte, dass auch er eine Braut gefunden hatte, war die Freude gross. Doch die Brüder lachten sich schier zu Tode und höhnten: «Wir möchten gerne wissen, was für eine Art Braut du im Wald aufgetrieben hast.» Sie hatten als Geschenk für den Vater zwei Riesenhunde mitgebracht, die waren höher als der Tisch. Der Vater hatte keine grosse Freude an diesen Riesentieren, die unmögliche Mengen frassen. Und jetzt öffnete Gian sein Kästchen, und ein wunderschönes Hündchen sprang heraus. Sofort gingen die zwei Riesentiere auf es los, und es begann ein grosser Kampf. Da schickte der Vater die Söhne mit ihren Riesenhunden weg, doch Gians Hündchen nahm er auf den Arm und hatte sein ganzes Vergnügen an diesem Tierchen. «Seht ihr», sagte er, «Gian hat es geschafft.» Unterdessen war die Zeit da, da die drei Brüder ihre Braut holen mussten, und Gian machte sich auf den Weg. Doch seine Brüder lachten und sagten: «Wir möchten gerne sehen, mit was für einer Braut du uns kommst, sicher ein prächtiges Muster.» Gian gelangte bis in den Wald zu den Ästen, und dort wartete das Füchslein, das ihn nach Hause führte. Es hatte ihm ein schönes Zimmer gerichtet, und er legte sich schlafen. Am nächsten Morgen hörte er beim Erwachen das Füchslein, das im Haus herum trippelte und sehr beschäftigt schien. Und als er in die Stube kam, sah er den Tisch aufs Beste hergerichtet, und was war dort alles ausgebreitet und bereitgelegt! Die schönsten Kleider, die man sich nur vorstellen kann, bestickte Hemden und ein Anzug aus Tuch so fein wie Flor, und während er noch dort stand und diese Pracht bestaunte, klopfte es an die Tür. «Herein!» rief Gian, und zur Tür herein kam eine schöne, sehr gut gekleidete Dame. Gian schaute sie ganz verwundert an, und sie sagte: «Hier, mein schöner Gian, ist deine Braut. Du sollst wissen, dass ich eine Prinzessin bin, die von einer bösen Hexe in ein hässliches, räudiges Füchslein verzaubert worden ist, bis ein rechtschaffener Bursche sich bereit erklärt, mich zu heiraten. Und jetzt komm, wir wollen nach Hause zu deinem Vater gehen.» - «Doch wie kommen wir durch die Äste hindurch?» fragte Gian. «Mach dir deswegen keine Sorgen», sagte die Braut, und in dem Augenblick stand vor ihnen eine wunderschöne, von vier Schimmeln gezogene Kutsche, und sie stiegen ein und gelangten schon bald zum väterlichen Haus. Die Brüder mit ihren Bräuten waren schon da, und der Vater rief, als er die Kutsche vor dem Tor halten sah: «Das ist ganz gewiss Gian, der mit seiner Braut kommt.» Da lachten die Brüder und sagten: «Ja, wahrscheinlich kommt der aus dem Wald in diesem festlichen Anzug.» Doch sie standen mit offenem Mund da, als sie aus der Kutsche ihren Bruder mit einem schönen, vornehmen Fräulein steigen sahen. Sofort wurden die Vorbereitungen für die Hochzeit getroffen, und nach der Trauung gab es ein schönes, gutes Festessen. Die Bräute der beiden Brüder waren von auswärts, trugen rote Röcke und Strümpfe, und während des Mittagessens benutzten sie die Gelegenheit tüchtig einzusacken und stopften alles, was sie einstecken konnten, in ihre Riesentaschen. Doch danach, als sie tanzten und rechte Sprünge machten, sprangen die guten Brocken aus der Tasche. Gians Braut wunderte sich über diese Manieren und den geringen Anstand der andern Bräute und sagte zu Gian: «Lass uns so rasch als möglich weggehen, denn diese Gesellschaft hier gefällt mir wenig.» Doch Gian tat es leid, seinen Vater schon zu verlassen. «Weißt du was», sagte seine Frau, «wir nehmen deinen Vater mit, er fühlt sich sicher besser bei uns als bei diesen beiden.» Und gesagt, getan, der Vater war völlig einverstanden, mit ihnen zu gehen, und bald reiste die Kutsche mit drei glücklichen Menschen ab.

(Oberengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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