Die Jungfrau, so weiss wie der Schnee und so rot wie das Blut

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Eine Königin sass am Fenster und war mit Nähen beschäftigt. An jenem Tag schneite es heftig, und während sie dem Schneetreiben zuschaute, stach sie sich in einen Finger, so dass es blutete, und sie liess das Blut in den Schnee auf dem Fenstersims tropfen. Wie sie dieses Blut im Schnee sah, kam ihr der Gedanke: «Wenn ich jetzt das Glück hätte, ein Kind zu bekommen, so weiss wie der Schnee, mit Wangen so rot wie dieses Blut im Schnee und mit Augen und Brauen so braun wie dieser Fenstersims, so wäre ich zufrieden.»

Kurze Zeit später starb die Königin, und sie liess ihr Mädchen als Waise zurück. Der König, der jetzt Witwer war, wollte nochmals heiraten, und er heiratete eine der schönsten Frauen seines Königreichs. Sie war aber ohne Mitleid und stolz darauf, die Schönste im Königreich zu sein. Das Mädchen wuchs heran und wurde eine schöne Jungfrau. Ihre Stiefmutter sah mit Neid, dass dieses Mädchen schöner als sie wurde, und sie begann sie schlecht zu behandeln. Die Königin hatte einen Spiegel, und der gab Antwort, wenn sie etwas fragte. Eines Tages fragte sie den Spiegel, ob sie noch immer die Schönste in ihrem Königreich sei. Der Spiegel antwortete: «Schneewittchen ist schöner als du.» Da geriet sie in grosse Wut.

Eine Weile später erklärte dieses Reich einem andern den Krieg; also zog der König in den Krieg. Da blieb die Stiefmutter allein mit dem Mädchen zurück. Sie begann es so schlecht zu behandeln, dass sie so weit kam, einer Wache den Befehl zu geben, er solle Schneewittchen nehmen, weit in den Wald hineingehen, sie töten und mit ihren Augen zurückkehren. Der Soldat musste Gehorsam leisten, ging mit dem Mädchen fort, weit in den Wald hinein, und sagte dort zu ihr: «Jetzt muss ich dich auf Befehl deiner Stiefmutter töten und ihr deine Augen mitbringen als Beweis, dass ich dich getötet habe.» Das Mädchen flehte, er möge doch gnädig sein und sie am Leben lassen; sie wolle weit weg gehen und nie mehr zurückkehren. Aber der Mann sagte. «Das kann ich nicht machen, denn ich muss deine Augen als Beweis, dass ich dich getötet habe, mitbringen.» Da flog ein grosser Vogel herbei, und jetzt sagte der Mann: «Ich will diesen Vogel schiessen.» Er nahm schnell sein Gewehr und schoss ihn herunter. Das Mädchen versprach, keiner solle wissen, dass sie noch auf der Welt sei, sie wolle weit, weit weg von hier gehen. «So will ich nun diesem Vogel die Augen herausschneiden und sagen: "Hier sind die Augen."» Das Mädchen kniete nieder und bedankte sich fest dafür, dass er sie am Leben gelassen hatte. Er ging mit den Augen zur Stiefmutter zurück und sagte: «Hier habt Ihr die Augen Eures Mädchens.» Sie war schlechter Laune, packte darum diese Augen und warf sie zu Boden, worauf ein grosser Hund, den sie dort hatte, alles aufs Mal verschlang. So kam sie nicht darauf, dass es die Augen eines Vogels und nicht jene Schneewittchens waren.

Da stand nun Schneewittchen ganz allein mitten im Wald, müde, hungrig und ohne zu wissen, wohin sie gehen sollte. Nachdem sie ein wenig gerastet und genug geweint hatte, fasste sie Mut und ging zwei Stunden weit tiefer in den Wald hinein. Da stand ein Häuschen. «Hier will ich anklopfen und um Essen bitten.» Denn sie konnte nicht mehr weiter. Sie rief, niemand gab Antwort. Da versuchte sie, das Haus zu öffnen, und dieses war offen. Jetzt dachte sie: «Ich will ins Haus hinein.» Da rief und klopfte sie; niemand gibt Antwort. Nun öffnete sie eine Tür. Hier war der Tisch für sieben Personen gedeckt, und sieben Betten standen im gleichen Zimmer. Sie kam auf den Gedanken, zu essen, was auf dem Tisch lag, denn sie hatte derart Hunger, dass sie nicht mehr weiter konnte, und niemand war da. Nachdem sie nun ihre kleine Mahlzeit genommen hatte, wurde sie müde von ihrer langen Reise, und sie dachte: «Ich will mich in eines dieser Betten legen», und fiel in einen tiefen Schlaf.

Hier in diesem Haus wohnten sieben Brüder. Die gingen im Wald arbeiten. Wie sie abends heimkamen, fanden sie die Haustür einen Spalt weit offen. Einer sagte: «Wer weiss, wer im Haus drin war, die Tür ist offen, da muss jemand drin gewesen sein. Lasst uns schauen, ob etwas geschehen ist.» Jetzt setzten sie sich an den Tisch, um zu essen, denn sie legten schon am Morgen auf dem Tisch alles bereit. Da rief einer: «Jemand hat mein Messer benutzt», der andere sagte: «Und jemand hat meine Gabel benutzt», der Dritte rief: «Jemand hat aus meinem Glas getrunken», der Vierte sagte: «Jemand hat meinen Teller benutzt.» Nach dem Essen wollten sie zu Bett gehen. Da rief einer: «Hier liegt jemand in meinem Bett.» Alle sprangen hin und sahen ganz überrascht, dass es ein schönes Mädchen war, das fest schlief. Da sagten sie zueinander: «Oh, was für ein schöner Engel, lassen wir sie heute in Ruhe schlafen. Komm her in mein Bett.» Am Morgen standen sie auf, und als das Mädchen wach war, fragten sie, wie sie hierher gekommen sei. Sie erzählte alles, was geschehen war, dass sie hungrig, durstig und müde hier angelangt war und dass sie ihr vergeben und nichts Böses tun sollten. Die sieben Brüder waren zufrieden und sagten, wenn es ihr gefalle, könne sie hier bei ihnen bleiben, so lang sie wolle, und sie war froh und glücklich darüber. Sie hatte das Essen zu richten und die Betten zu machen. Eine Zeitlang später fragte die Stiefmutter den Spiegel wieder, ob sie noch immer die Schönste in ihrem Königreich sei. Der Spiegel antwortete, dass Schneewittchen hundert Mal schöner sei als sie. Jetzt war sie ganz erstaunt und fragte, ob Schneewittchen noch lebe und wo es sei. In dem und dem Wald, im Haus jener sieben Brüder. Da kam sie auf den Gedanken, hinzugehen und zu versuchen, Schneewittchen um die Ecke zu bringen. Sie verkleidete sich als alte Krämersfrau, ging mit Kopf- und Halstüchern weg und gelangte zum Häuschen der sieben Brüder. Diese hatten befohlen, das Haus verschlossen zu lassen, wenn sie weg seien und nicht zu öffnen, wenn jemand komme. Da klopfte es an die Tür. Das Mädchen lief ans Fenster und fragte, wer klopfe. Es sei eine Krämerin, die Kopf- und Halstücher habe; sie solle öffnen und sie hereinlassen. Das Mädchen öffnete die Tür und liess sie herein, um ihren Kram anzuschauen. «Dieses Halstuch kostet nichts und passt zu einem schönen Mädchen.» Dann legte sie es ihr um den Hals, macht eine Schlinge und zog daran, um sie zu erwürgen, bis das Mädchen hinfiel. Jetzt glaubte die Krämerin, das Mädchen sei erwürgt, sie floh und liess das Haus offen.

Am Abend kehrten die sieben Brüder zurück, und sie erzählte, was ihr heute geschehen war. Es sei eine Krämerin da gewesen, die habe versucht, sie zu erwürgen, aber sie habe aufstehen und die Schlinge lösen können. Sie sagen ihr, sie solle nicht ein weiteres Mal öffnen, wenn sie nicht da seien. Die Stiefmutter fragte wiederum den Spiegel, jetzt sei doch sie die Schönste in ihrem Königreich. Der Spiegel antwortete: «Schneewittchen ist tausendmal schöner als du.» Jetzt wollte sie sich wieder als Alte verkleiden und Äpfel verkaufen. Sie nahm einen Apfel und halbierte ihn, tat Gift hinein, kehrte zum Haus der sieben Brüder zurück und rief, ob sie nicht Äpfel kaufen wolle. Doch diesmal öffnete das Mädchen nicht. Als sie ans Fenster kam, sagte die Stiefmutter, sie solle schauen, was für schöne Äpfel sie habe, sie brauche nicht zu öffnen, sie wolle sie durchs Fenster hineinreichen. Sie kaufe nicht. Sie solle davon versuchen, wenn sie versuche, so kaufe sie. Sie täuschte vor, den Apfel zu halbieren, und jene Hälfte mit dem Gift reichte sie dem Mädchen hinauf, und die andere ass sie. Sie solle essen, es koste nichts, sie wisse, dass sie kaufe. Aber sobald das Mädchen den Apfel zum Mund geführt hatte, fiel sie rücklings um. Da glaubte die Alte, es sei aus mit ihr, und sie machte sich schnell davon.

Als die sieben Brüder abends zurückamen, fanden sie das Haus verschlossen, und sie riefen nach dem Mädchen. Keine Antwort. Sie stiegen durchs Fenster, das offen war, und fanden das Mädchen am Boden. Da hoben sie sie auf, legten sie auf ein Bett und riefen ihren Namen. Aber keine Antwort. Sie war so schön, als ob sie schliefe, und sie sagten: «Ah, was für ein schöner Engel!» Da die sieben Brüder sie für tot hielten, liessen sie einen gläsernen Sarg machen, legten sie hinein und trugen sie hinaus auf eine Brücke, um sie dort achtundvierzig Stunden lang aufgebahrt zu lassen. Sie wollten, dass man sie sehen konnte, denn sie war so schön, als ob sie schliefe.

Die Stiefmutter kehrte sofort zurück und fragte den Spiegel: «Jetzt bin ich doch die Schönste in meinem Königreich?» und der gab zur Antwort: «Ja, jetzt wohl!»

Dort in der Nähe, wo das geschehen war, ging ein Prinz auf eine grosse Jagd. Die Hunde trieben die Hirsche und Rehe. Als der Prinz auf jene Brücke kam, sah er den gläsernen Sarg mit dem schönen Mädchen drin. Einer der sieben Brüder wachte am Sarg, und der Prinz bat, ihm das Mädchen zu überlassen, er werde sie auf sein Schloss bringen, und das wurde gewährt. Da blies der Prinz sogleich in sein Horn, rief seine Diener herbei und gab den Befehl, jenen Sarg unverzüglich auf sein Schloss zu bringen, auch er werde folgen. Beim Tragen des Sarges löste sich das Apfelstück im Hals, und das Mädchen begann, die Augen zu verdrehen. Rasch wurde der Sarg geöffnet, durch die Erschütterung fiel das Apfelstück aus dem Mund, und Schneewittchen kam wieder zu sich. Als sie wieder hergestellt war, fragte der Prinz das Mädchen aus, und sie erzählte ihr ganzes Leben und sagte, sie sei die Tochter jenes Königs und was ihre Stiefmutter mit ihr gemacht habe. «Also, du musst meine Braut werden», sagte der Prinz. Die Stiefmutter wurde krank und bekam die Pocken, so dass sie scheckig wurde wie eine Kröte. Und dann stand sie vor den Spiegel und fragte: «Bin ich jetzt nicht mehr die Schönste in meinem Königreich?» - «Du bist die Hässlichste», antwortete der Spiegel, «die Schönste ist Schneewittchen.» Und auf das ergriff sie eine Flasche Gift und trank sie aus, so dass es mit ihr fertig und aus war.

Da kam der König aus dem Krieg zurück und hatte Frau und Tochter verloren. Er war unglücklich, niemanden mehr zu haben. Eines Tages, als er dachte, wenn er seine Tochter wieder hätte, würde er ihr das ganze Königreich geben, kam einer seiner Diener und meldete, dass der und der Prinz mit seiner Prinzessin ihm einen Besuch machen möchte, und der König befahl, er solle sie vortreten lassen. Da war er sehr überrascht, als er sah, dass es seine Tochter mit jenem Prinzen war. Könnt ihr denken, wie der König seine Tochter mit grosser Freude in seine Arme geschlossen hat! Nachdem sie alles, was geschehen war, erzählt hatten, dankte er dem Prinzen. «So übergebe ich dir jetzt meinen Thron zu deinem und trete als König zurück.»

(Oberhalbstein)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.  

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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