Das Tunnscheli auf Clariden

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Die Sommerabende auf der Alp sind lang und die Regentage noch viel länger, und so ist es nicht verwunderlich, dass die drei Sennen auf der Claridenalp, mehr als ihnen lieb war, über Langeweile klagten und sich über jeden Gast freuten, der vom Urnerboden heraufgestiegen kam und ihnen vom Tal berichtete. Doch waren derlei Gäste recht selten, und so meinte der jüngste von ihnen einmal in unguter Laune: «Es scheint, dass der Herrgott vergessen hat, dass auf Clariden auch Menschen leben. Wenn wir nur noch einen vierten zum Jassen hätten! Aber wenn uns der Herrgott keinen schickt, so machen wir selber einen, so gross wird die Kunst kaum sein! Ein Mannenvolch oder ein Weibervolch ist einerlei!»

 Nach langem Hin und Her wurden die beiden rätig, es möchte doch eher ein Weibervolch sein, weil man so ein Geschöpf zu allerhand Diensten in der Hütte anstellen könnte, zum Putzen und Aufwaschen und derlei Weiberarbeit. Und überhaupt wär’s kurzweiliger zum Zeitvertreib.

Der Senn hatte sich wenig um das Gerede der Knechte bekümmert. Schliesslich aber wurde es ihm zu dumm und er kanzelte sie ab: «Das ist ja alles Larifarizeug, was ihr da zusammenbrittelt! Wär’ schläuer, ihr hättet Gescheiteres im Grind, ihr jungen Schnaufer! Legt euch aufs Tril, so vergehen euch solch gottssträfliche Gedanken!»

Dem jüngsten der drei aber ging die Sache im Kopf herum. Einmal, als er allein in der Hütte war, suchte er sich allerlei alten Plunder zusammen, zerschlissene Hosen und siebenmal geflickte Socken, die vergessen in einem Winkel lagen, einen alten Filzhut, ein paar Schnurresten; daraus formte er eine Hudlenbaabe und stopfte sie mit Heu prall aus, so dass sie aussah wie eine dicke Vogelscheuche, hässlich, schmutzig, aber doch das ungefüge Abbild einer Frau.

Als die andern zur Hütte kamen und das Lumpengeschöpf hinter dem Tisch sitzen sahen, machten sie kuriose Augen, und der Senn murrte, dass die Jungen nichts Vernünftiges im Kopf hätten, lauter Lumpereien und Dummheiten. Auf der Ortalp hätten die Knechte auch einst ihren Mutwillen mit so einem Tunnscheli getrieben und seien gestraft worden für das Teufelswerk.

Die Knechte aber hatten ihren Spass mit der grossen Puppe und lachten den Meister aus: «Sie ist doch der billigste Kostgänger, hockt am Tisch und frisst nichts! Und sie ist immer noch besser als gar keine. Der Herrgott ist selber schuld, wenn er uns keine schönere Jungfer auf die Alp schickt!»

Meist hockte das Tunnscheli in einer Ecke, wo es niemandem im Weg war, grad wie ein Pfund Dreck, mit Verlaub gesagt. Abends aber, wenn sie noch ein Spiel zur Hand nahmen, holten sie das Geschöpf zum Gaudium an den Tisch und drückten ihm die Karten in die Hand: «So gib’s du!» Doch die Puppe regte sich nicht und blieb stumm und tot.

So sassen sie wieder eines Abends beim Zunachten um den Tisch und hatten ihren Fenz gegessen und noch einen halben Teller übriggelassen. Da nahm der Senn zum Spass einen Löffel voll und strich ihn dem Tunnscheli ums Maul: «Da friss! Wirst wohl auch einmal Hunger haben?»

Und nun geschah das Merkwürdige – das Tunnscheli verzog das Maul; das wurde breiter und breiter, und die Augen wurden wie lebendig, und mit einem Mal sah das Geschöpf aus wie ein Mensch und war doch keiner. Es riss das Maul auf und liess den Geifer über die Lippen fliessen, und dann verschwand der Fenz zwischen den Zähnen. Die Sennen waren voller Grausen aufgestanden und wollten auf und davon; als aber die Puppe mit beiden Armen winkte, sie sollten doch bleiben, da kamen sie verstört an den Tisch zurück und gaben dem Tunnscheli noch den letzten Rest Fenz.

Vom Tag an blieb das Tunnscheli bei ihnen am Tisch und nahm, was man ihm vorsetzte, Käse, Brot, Anken, Suufi, Milch, und ass und frass für drei. Dafür aber half es in der Hütte, hielt Ordnung, wusch die Gebsen und die Teller und Kellen, fuhr mit dem Besen wie ein putzsüchtiges Weib am Boden auf und ab und kochte, was es zu kochen gab und für sich selber am meisten. So vertrugen sie sich nach und nach immer besser und hätten das Tunnscheli nimmer missen mögen. Wenn sie es beim Zunachten gar Schätzeli nannten, so kam es herbeigesprungen, schnurrte und spulte wie eine Katze und liess sich all ihren Mutwillen noch so gern gefallen. Ja, war es gar bei absonderlicher Laune, so fing es an zu reden und erzählte den dreien weiss der Teufel was für Geschichten, aber keine frommen. Dann hielten sie auch nicht zurück mit derben Spässen und hatten ihre Lust, wenn es zu johlen und zu lachen begann und ihnen ihren Willen liess.

So ging der Sommer vorüber und der Herbst kam, und wie der erste Nebel über Clariden lag, da kratzten sich die Sennen in den Haaren und werweissten, was nun mit dem Tunnscheli anzufangen sei. Auf dem Urnerboden oder gar im Dorf durfte man sich nicht zeigen mit ihm, um nicht in böses Geschwätz zu kommen; totschlagen mochten sie es nicht, einsperren und verhungern lassen schien ihnen nicht weniger sündlich zu sein. So beschlossen sie denn, das Tunnscheli ganz einfach in grauer Morgenfrühe nicht zu wecken und heimlich mit allem zu Tal zu fahren. Mit ein paar Dutzend Haupt Vieh aber und mit allem, was dazu gehört, lässt sich das nicht so einfach machen, wie sie’s erhofft hatten; das Tunnscheli erwachte, kam furibund vom Tril heruntergeschossen und brüllte und schrie sie an: «Ich weiss schon, was ihr im Sinn habt! Ich sollt’ in der Hütte am Hunger verrecken und in der Kälte verderben! Hab ich euch aber den Sommer lang den Guetgnueg gemacht, so könnt ihr mich auch den Winter über vergaumen! Ihr traurigen Finken!»

So blieb nichts übrig, als mit dem Geschöpf zu reden und ihm klarzumachen, dass ihm unter den Menschen doch nicht so recht wohl wäre, dass sie es mit scheelen Augen ansähen und ihm fluchten, und das möchten sie ihm doch lieber ersparen, nach alledem, was sie den Sommer hindurch erlebt hätten. Bis zuletzt das Tunnscheli einverstanden schien, man solle ihm noch einen Landkäs und ein paar Brote zurücklassen, wenn’s dann kalt würde, lege es sich ins Heu und schlafe wie ein Mungg. Was ein Mungg fertigbringe, werde kaum eine Kunst sein!

So machten die Sennen sich denn bereit, mit allem «Schiff und Gschiir» zu Tal zu fahren. Am Vorabend aber nahm das Tunnscheli den Senn am Arm und flüsterte ihm hinter der Tür ins Ohr, er möge doch den letzten Tag und die letzte Nacht noch ihm zuliebe auf der Alp bleiben, und es solle ihn nicht reuen. So ohne rechten Abschied bekäme es allzu grosses Heimweh! Richtig, wie sie am Morgen fahren wollten und schon beim Alptürli angelangt waren, schien dem Senn noch etwas in den Sinn zu kommen. Er habe ja vergessen, dem Tunnscheli noch die Milch zu erwellen, und schon war er zurückgelaufen und winkte den Knechten, sie sollten ihren Weg ziehen.

Die beiden lachten und machten sich ihre Gedanken, waren aber froh, dass der Meister noch allein mit dem Tunnscheli fertig werden wolle. Ganz geheuer war ihnen freilich nicht zumute. Auf dem Boden stellten sie das Vieh in den Gaden, besorgten, was noch zu tun war, und warteten auf den Senn. Der aber kam nicht.

Am andern Morgen stiegen die beiden langsam wieder der Alp zu und beteten bei jedem Rank ein Vaterunser und den englischen Gruss (man kann nie wissen, wofür das gut ist), liefen weiter und kamen zum alten Alptürli. Von dort überblickt man die ganze Alp, und so sahen sie denn etwas auf dem Hüttendach herumspringen, wussten aber nicht, was es war. Wie sie aber näherkamen, überlief sie ein kaltes Grausen, denn auf den Platten sprang das Tunnscheli in hohen Sätzen auf und ab, hatte die Haut des Sennen zum Trocknen übers Dach gespannt, und das Blut tropfte ins Trauf hinunter. Und wie es die beiden erschwickt, fängt es an zu brüllen und zu toben und stampft auf dem Dach herum: «Wer hat Euch denn beten geheissen, Ihr Lumpen? Wenn Ihr nicht gebetet hättet, so biss ich Euch die Gurgel durch wie dem da!»

Da rannten die zwei dem Tal zu und schauten nicht mehr rückwärts, bis sie die Bodenkapelle vor sich sahen. Vom Tunnscheli aber hat man nie mehr etwas gehört.

 

Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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