Das Kreuz auf der Winkelegg

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Unsere Altvordern sagten, wenn einer die sieben W habe, gehe es ihm gut. Damit meinten sie Weizen, Weide, Wald, Werch (Flachs), Wolle, Wein und Wasser. Die beiden Brüder Joss und Läri Speich aber, die vor vielen Jahren einmal auf die Krauchtalalp kamen, besassen von den sieben Gottesgaben nur eine, nämlich das Wasser, und davon ist noch keiner feist geworden. Hungersnot plagte das Land, und Scharen von Bettlern zankten sich vor den Pfrundhäusern und Bäckereien um ein paar Blutzger oder Bissen und verführten ein Geschrei wie die Saatkrähen im Wintermonat. Joss und Läri hatten deshalb beschlossen, die abgelegenen Alpütten im Sernftal aufzusuchen, hoffend, dort weniger Heischer und um so mildere Herzen anzutreffen. Mit knurrendem Magen stapften sie höhwärts und erreichten nach beschwerlichem Aufstieg endlich den untern Stafel. Kein Mensch weit und breit. Von den obern Hütten her aber sangen die Herdenglocken. Ein leichter Bergwind strich talab und trug den Bettelbrüdern dann und wann das Gerüchlein eines Herdfeuers zu, das ihnen gar verheissungsvoll in der Nase kitzelte, so dass sie ihre Schritte beschleunigten. Beim Winkeleggli, unweit des obern Stafels, hielten die Brüder an. Fluchen und Schweinegrunzen vernahm man von der Hütte her. Der Senn war mitten in voller Arbeit und offenbar nicht in hochzeitlicher Laune. Wie würde er die ungebetenen Besucher empfangen?

Eine Weile rieten die Speichig hin und her. «Weisst du was!» schlug Läri nach längerm Werweissen vor, «es ist wohl am besten, wenn nur einer geht. Warte hier – und was er mir gibt, wollen wir redlich miteinander teilen.» Joss war zufrieden, warf sich ins kurze Gras und wartete.

Es dauerte nicht lange, so sah er seinen Bruder zurückkommen, gemütlich einhertschampend. Mit beiden Händen hielt er eine währschafte Anggenbruut vor dem Gesicht, die wohl fingerdick mit dem lieblichen «Alpengold» bestrichen war, und biss nach Herzenslust hinein. «Er wird die meinige im Sack haben», dachte Joss und blieb sitzen, bis Läri, dessen Bruut mit jedem Schritte kleiner ward wie der Mond im letzten Viertel ,bei ihm anlangte. «War er arg knauserig?» – Keine Antwort. «Du, mach keine Flausen, heraus mit meiner Anggenbruut!» «Er hat nur eine gegeben!», kam es aus dem schmatzenden und grinsenden Bruder. Joss sprang auf die Beine. «Nur eine? Und die frissest du mir vor der Nase auf!» «Sälber ässe macht feisst. Lueg du für dich!», hänselte Läri, den braunen Rindenring behaglich abschleckend. Gegessen hat er die Brotrinde nicht mehr. Wie der Blitz schoss Joss auf den Bruder los. Hunger und Wut kochten in ihm – das Messer blinkte in seiner Faust und fuhr dann tief in Läris Kehle.

Älpler fanden nach Tagen den Toten auf der Winkelegg und als sie ihn aufhoben, sahen sie, dass unter ihm der Rasen in Kreuzform abgestorben war, als hätte einer mit einem Sackmesser die «Wäsem» herausgestochen. Der Joss war und blieb verschwunden. Das Rasenkreuz auf der Winkelegg aber ist heute noch zu sehen, ein bleibendes Denkmal einer arglistigen und rohen Zeit, aber auch ein Mahnzeichen für uns, wie Habgier selbst Brüder zu Todfeinden und Menschen zu Tieren machen kann.

 

Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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