Das dreibeinige Ross in Sitten

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Vor vielen und vielen Jahren wurde um die Mitternachtstunde, so erzählt die Sage, die Ruhe der Bewohner der Stadt Sitten sehr oft gestört. Ein dreibeiniges Ross, und noch obendrein nur mit einem grossen Auge mitten auf der Stirne, zog unter klingendem Geschäll und klappernden Hufschlägen die Strassen und Gassen der Stadt auf und ab und hin und her. Am ärgsten trieb es den Spuk auf der grossen Brücke. Diese war bekanntlich beim Rathaus für die Kreuzgasse vom Schlossplatze herunter ziemlich breit angelegt, um das rechte und das linke Ufer der Sitte miteinander zu verbinden. In der übrigen Stadt führten nur schmale Holzbrücken über den Fluss; darum hiess, wie noch jetzt, die Brücke beim Rathaus "die grosse". Damals fragte wohl niemand, auf der Mitte derselben stehend, wo nun auch in Sitten die grosse Brücke sei.

Als nun eines Abends das dreibeinige Ross es wieder ärger machte als gewöhnlich, fasste ein Waghals, des Lärmens überdrüssig, den Entschluss, hinaus zu gehen und zu versuchen, ob das lästige Ross zum Reiten auch tauge. Aller Abmahnungen ungeachtet wagte er sich heraus und zu ihm heran. Der Verwegene ward willig aufgenommen und munter Strasse auf- und abgetragen. Das war ein herrliches Fahren! — Aber das unheimliche Ross wurde immer grösser und stieg mit dem Reiter sichtlich in die Höhe. Als es gross und hoch genug war, lenkte es unerwartet schnell in die Kirchgasse ein und drückte denselben so unsanft an den oberen Bogen, dass er am Morgen zerquetscht und wie eine Bettdecke auf dem Boden ausgebreitet gefunden wurde. Seither stören die dreibeinigen Pferde in der Stadt Sitten die nächtliche Ruhe nicht mehr.

Hr. R. Ritz erzählt über den gleichen Spuk: — In der wohllöblichen Stadt Sitten hausten lange Zeit drei Ungeheuer; das dreibeinige Ross, die grünäugige Rathaussau und der rote Stier.

Wo die Rathaussau sich aufhielt, sagt schon der Name. Auch liess sie ihr Grunzen nächtlich ertönen in einem der beiden Gässchen, die neben dem Hause de Platea treppenartig in die untere Stadt führen. In dem andern dieser Gässchen lagerte der rote Stier.»

Das dreibeinige Ross, mit einem glühenden Auge mitten in der Stirne, hatte sein Stammquartier im Stadtviertel Mala curia. Es tummelte sich oft in einem Baumgarten hinter der Savièse-Gasse und, wo es sich wallete, spross kein Gras mehr. Mit seinen drei Beinen trabte es gar sonderbar das Bett der Sitte hinunter und lenkte beim Rathaus durch einen kleinen Abzugskanal in die Schlossgasse ein. Wehe dem, den dann die Neugierde an's Fenster trieb! Alsbald schwoll das gespenstige Ross zu einer solchen Höhe an, dass es dem Auflauerer, auch im dritten und vierten Stocke, zum Fenster hinein entgegenglotzen konnte, worauf der Neugierige in "Winna" kam, am Gesicht aufschwoll und am Munde Ausschlag erhielt. Viel schlimmer ging's einem Bäuerlein, das an einem Markttage ein Tröpflein über den Durst getrunken hatte. Es setzte sich abends gemütlich auf das dreibeinige Ross, meinend, das wäre sein Maultier, und liess sich sorglos davontragen. Unter einem Bogen wurde es aber vom aufschwellenden Rosse zusammengedrückt zur Dicke eines Batzens. — So hat das Gespenster-Ross wohl manchen jämmerlich gefoppt. Einer aber konnte sich noch schnell durch das Hl. Kreuzzeichen retten.

Als man nach der grossen Feuersbrunst 1788 den Schutt aufgrub, wegräumte und anfing wieder zu bauen, entdeckte man in der Savièse-Gasse unter einem Hause eine unterirdische Gruft und darin drei Ritter am Kartenspiel. Wie man sie berührte, zerfielen sie alsbald in Staub und Asche. — Und seither hat man das dreibeinige Ross auch nicht mehr gesehen.*

* Wenn aus je drei Spielern ein dreibeiniges Ross wird, wie viel solcher Ungetüme werden dann einst in den Casinos von Sitten spucken?

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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