Die Päonien
In dem kleinen Dorf Tsung, umgeben von einem herrlichen Blumengarten, stand das Haus des jungen Beamten Chang. Er hatte Haus und Garten und auch die Liebe zu den Blumen von seinen Eltern geerbt. Schon in seiner frühen Kindheit waren die Blumen seine Freunde und Begleiter gewesen. Und so war Changs Garten vor dem Haus voll herrlicher Blüten. Seine besondere Liebe gehörte der Päonie, deren Blüten in der warmen Frühlingssonne so herrlich leuchten und duften. Jedes Jahr wartete Chang sehnsüchtig auf ihr Blühen. Seit man ihm erzählt hatte, dass es in dem kleinen Städtchen Chao-Chou die allerschönsten Päonien zu sehen gab, wartete er nur noch auf eine Gelegenheit, dorthin zu reisen. Endlich sollte sein Wunsch in Erfüllung gehen. Eines Tages erteilte ihm sein Vorgesetzter den Auftrag, in einer dienstlichen Angelegenheit nach Chao-Chou zu reiten. Chang war darüber hoch erfreut, denn er dachte an die herrlichen Päonien, die es in Chao-Chou zu sehen gab. Aber noch waren die Tage kühl, und der Frühling war fern. Als der Beamte Chang in Chao-Chou ankam, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als nach den Päonien zu schauen. Zu seiner Enttäuschung sah er, dass sie wohl ihre grünen Blätter ausgestreckt hatten, die Blütenknospen aber noch klein und fest geschlossen waren. Vor dem Fenster seines Zimmers, das er gemietet hatte, lag ein kleiner Garten. Darin standen Päonienbüsche. So konnte Chang jederzeit nachsehen, ob die Knospen schon grösser wurden. Auch ein alter Maulbeerbaum stand in seinem Garten und breitete seine knorrigen Äste wie schützend über die Blumenbeete. Eines Morgens schaute Chang wieder aus dem Fenster. Da sah er, dass die Päonien nun schon dickere Knospen hatten. Eigentlich hätte Chang schon lang nach Tsung, seinem Heimatdorf, zurückkehren müssen, denn sein dienstlicher Auftrag war längst erledigt, und er hätte seinem Vorgesetzten darüber berichten müssen. Auch hatte Chang nur noch wenig Geld bei sich. «Nur noch ein paar Tage, dann werden die Päonien blühen, und dann will ich heimwärts reisen», sagte Chang und blieb. Da die Sonne nun schon kräftig schien und wärmte und Chang dringend Geld brauchte, kam er auf den Gedanken, seinen Winterpelz zu verkaufen. Das tat er auch, und jetzt konnte er wieder eine Zeitlang sorgenfrei leben. Aber als bald darauf seine Börse wieder leer war und die Päonien noch immer nicht blühten, musste er sich wieder etwas einfallen lassen. Diesmal verkaufte er sein Pferd. Die Summe, die er dafür erhielt, reichte für eine Weile. Aber eines Tages hatte er wieder die letzte Münze ausgegeben, und die Päonien wollten noch immer nicht blühen. Noch nie hatte der Frühling so lange gezögert, und Chang konnte sich nicht erinnern, dass die Päonien jemals so spät geblüht hatten. So verkaufte der Beamte Chang, während er auf die Päonienblüte wartete, mit der Zeit all sein Hab und Gut. Jetzt hatte Chang nicht einmal mehr das Geld für die Heimreise. Noch mehr aber erschreckte ihn der Gedanke an seinen Dienstherrn. Was würde der wohl von ihm denken und was wohl zu seinem langen Ausbleiben sagen? Wenn er nicht bereit war, ihm gnädig zu verzeihen, erwarteten ihn Kerker, Prügel und die Entlassung «Was soll ich jetzt tun?», klagte Chang. «Soll ich vielleicht betteln gehen?» Zu Fuss konnte er nicht heim, dazu war der Weg zu weit, auch wäre er höchstwahrscheinlich unterwegs Räubern in die Hände gefallen, denn die Gegend war unsicher. «Ich bin verloren», jammerte der ungetreue Beamte, der plötzlich klar erkannte, wohin ihn seine übergrosse Liebe zu den Päonien gebracht hatte. Nach einer schlaflosen Nacht ging er wieder frühmorgens in den Garten, um nach alter Gewohnheit die Päonien zu beobachten und nachzuschauen, ob sie wohl endlich blühen würden. Da sah er etwas höchst Ungewöhnliches: Mitten in den Päonienbüschen standen zwei vornehme junge Mädchen. Die eine der beiden Schwestern war in schneeweisse, die andere in rosenrote Seide gehüllt. Zugleich bemerkte er aber auch, dass über Nacht endlich die Päonien aufgeblüht waren. Prächtig leuchteten sie unter dem knorrigen Maulbeerbaum hervor, vom tiefsten Rosenrot bis zum hellsten Weiss. Über dem blühenden Garten spannte sich ein seidenblauer Himmel, wie er nur im Frühling so schön ist. Als Chang die Herrlichkeit erblickte, vergass er sogleich seine Sorgen, und er freute sich über alle Massen. Er verneigte sich grüssend vor den beiden Mädchen. Sie kamen ihm freundlich entgegen und begannnen mit ihm ein Gespräch. Auch sie freuten sich über die blühende Pracht der Päonien, von denen sie mindestens ebensoviel wussten wie Chang, der sie so sehr liebte. Wie sie in den Garten gekommen waren, konnte er von ihnen nicht erfahren. Sie plauderten fröhlich miteinander. Aber irgendwann erinnerte er sich an seinen Kummer, und er dachte mit Schrecken daran, was ihn zu Hause erwartete. «Was ist es, das dich so traurig macht?», fragten ihn die Mädchen, die gemerkt hatten, wie sich sein Gesicht verdüsterte. Da klagte ihnen Chang seine Not. «Ach, wie gerne würden wir helfen», sagten die beiden Mädchen voll Mitgefühl, und während sie noch zu überlegen schienen, brach das eine, wie in Gedanken, zwei junge Triebe von den Päonienstauden, und das andere sagte: «Wir wollen die Zweige in die Erde stecken, zur Erinnerung an diese gemeinsame Stunde im Garten.» Sie baten Chang, er möge ihnen im Schatten des Maulbeerbaumes zwei Pflanzlöcher graben, in die sie die Zweige stecken wollten. Als Chang dort die Erde lockerte, stiess er mit seiner Schaufel auf etwas Hartes, das klang, als wäre es aus Metall. Er bückte sich und sah in der Erde etwas glitzern. Er griff danach und hielt ein Goldstück in der Hand. An derselben Stelle fand er noch viele solcher Münzen, einen ganzen Schatz. Chang war starr vor Freude und Überraschung. Er fasste es nicht. Die Mädchen aber, die ihn so dastehen sahen, klatschten vor Vergnügen in die Hände, sie lachten hell heraus und freuten sich unbändig, wie Kinder über einen gelungenen Streich. Auch die Zweige des Maulbeerbaumes rauschten, obwohl kein Windhauch sie bewegte, als wollten sie dem fassungslosen Chang zu seinem unerwarteten Glück gratulieren. Als Chang endlich begriff, was geschehen war, und dass er nun aller Sorgen ledig war, kniete er nieder und wollte den beiden Mädchen überschwänglich danken. Aber als er aufsah, waren sie plötzlich nicht mehr da, sie waren verschwunden, als hätte der Erdboden sie verschluckt. Wo sie eben noch gestanden hatten, wuchsen jetzt zwei herrliche Päonienbüsche, die waren über und über bedeckt mit schneeweissen und rosenroten Blüten.
Märchen aus China, © Mutabor Verlag, aus: Blumenmärchen aus aller Welt